Graukalt & 5. Tagebucheintrag

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Liebes nicht-Tagebuch,


 Es war manchmal ziemlich seltsam jemand völlig anderes zu sein. Ich hatte mir ein komplett anderes Leben für mich ausgesucht. Elis war nicht wie Hannah in Stralsund geboren, sondern in Hamburg. Elis war auch nicht mit vier Jahren Vollwaise und ins Heim gesteckt worden, sondern lebte bis zu ihrem Achtzehnten Lebensjahr brav bei Mama und Papa. Elis schreib immer gute Noten, hatte keinerlei Vorstrafen und das einzig Auffällige an ihr waren die blauen Haare. Wenn man Theo ansah, sah man einen jungen Mann, der in seinem Leben viel durchgemacht hatte. Aber man sah auch einen Mann, der nie aufgab. Er hatte einen derart starken Lebenswillen und er versuchte immer, dass positive in allen Dingen zu sehen. Deshalb war es manchmal schwierig ihn zu hassen. Einfach weil seine positive Art jeden in seinem Umfeld ansteckte. Wenn ich dann wieder allein war, hasste ich ihn dafür. Und ich hasste mich dafür, dass ich mich so ablenken lies, dass ich ihn manchmal wirklich auf irgendeine komische Art und Weise mochte. Ein paar Wochen nachdem wir zusammen auf der Party waren, auf der ich ihn hätte abfüllen wollen aber kläglich gescheitert war, nachdem ich Ardian kennengelernt hatte, war ich zum ersten Mal bei Theo zu Hause. Als er mir sein Zimmer zeigte, strahlten seine blauen Augen vor Stolz und Erwartung. Ich muss sagen, für einen Kerl hatte er einen sehr hübschen Einrichtungsstil. Seine Wände waren hinter Bandposter von meist Unbekannten Punk-Bands verschwunden. Er hatte einige Lichterketten über den Fenstern und an einem Regal auf gehangen und seine Möbel waren Allesamt Vintage. Ich musste zugeben, dass ich mich in diesem Raum richtig wohl fühlte. »Wow«, sagte ich und strahlte ihn an. »Du Studierst eindeutig die falschen Fächer. Du solltest Innenarchitekt für Punk Läden werden.« Theo lachte und kratzte sich verlegen an der Wange. »Danke.« Mehr sagte er nicht. Aber das reichte mir auch schon. Mehr Freude hätte ich an dieser Stelle auch nicht ertragen. Als er nach ein paar peinlichen Schweigsamen Minuten in die Küche verschwand um uns etwas zu trinken zu holen, steckte ich ein Buch, welches auf seinem Nachttisch lag in meine Tasche. Später würde er es suchen, sich aber dabei ganz sicher sein, dass es auf seinem Nachtisch lag, denn er hatte es fast ausgelesen, nur ein paar Seiten fehlten noch, es sah nicht so aus, als ob es bisher je beendet worden war. Die letzten Seiten waren völlig knitterfrei und unberührt und ich nahm ihm die Chance zu wissen, wie diese Geschichte ausging. Auf dem Weg nach Hause grinste ich in mich hinein. Zu Hause warf ich Theos Buch ungeachtet in eine Ecke. Vielleicht würde er mich irgendwann danach fragen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht würde ich es auch irgendwann wieder auf seinem Nachttisch platzieren und er würde sich fragen, ob er denn verrückt geworden sei weil sein lang gesuchtes Buch einfach wie ein Geist wiederaufgetaucht war. 

Sara teilte ihre letzte Zigarette mit mir. Ich war an diesem Tag so durcheinander und aufgewühlt, dass ich meine letzte Zigarette direkt nach der Ausgabe geraucht hatte, anstatt wie immer bis kurz vor dem Einschließen in unsere Zimmer vor dem zu Bett gehen zu warten. Wir rauchten erst schweigend aber dann hielt ich es nicht mehr aus. Mit einem schweren Stein im Bauch holte ich Atem und grauer, eiskalter Rauch steig von meinen Lungen bis zu meinem Hals, als ich halb krächzend fragte »Meinst du ich soll es machen? Mit ihm reden?« Zuerst wusste sie nicht, was ich meinte, schaute mich verwirrt an doch nach einer Weile schien sie zu begreifen. »Der Zettel. Wieso sagst du das nicht gleich?«, fragte sie. »Ich kann nicht«, meine Hände zitterten. »Kann nicht darüber reden. Es tut verdammt weh. Hier.« Ich zeigte auf mein Herz. »Das alles tut zu weh.« Sara schüttelte den Kopf, guckte mich traurig an. Noch nie hatte ich sie so gesehen. Normalerweise war ihr einfach alles egal, auf die Gefühle der anderen gab sie nichts, nicht einmal auf ihre eigenen. Doch nun sah sie mich Mitfühlend an und während sie weitersprach, fühlte ich mich noch mehr durcheinander als zuvor. »Ich glaube nicht, dass du schon soweit bist, Hannah. Du solltest noch ein wenig warten und deinem Herzen mehr Zeit geben um zu heilen.« Dann, wie immer, drehte sie sich von mir weg und ließ mich verwirrt allein in der Dunkelheit zurück. 

In dieser Nacht träumte ich von Dunkelheit und Schwärze. Ich lief durch ein unendliches Nichts, verfolgt von kreischenden Armen, die nach mir zu greifen versuchten, mich wegreißen wollten, zu sich in die Ecken um mich für immer zu einen von ihnen zu machen. Doch ich rannte. Ich rannte und rannte und rannte. Weit kam ich nicht. Wieder ein Stückchen weniger als in der letzten Nacht. Irgendwann, da war ich mich sicher, würde ich mit den schreienden, kreischenden Armen verschmelzen und was dann passieren würde, wollte ich mir nicht einmal in diesen dunklen Träumen ausmalen. 

Vergib mir nicht Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt