Erwischt Werden

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Etwas schneller als sonst steige ich die Treppen im Altbau nach oben um zum Musiksaal zu gelangen, welcher im zweiten Stock liegt. Ich hoffe, dass Felix jetzt zufrieden ist, er hat nun das, was er will. Zukünftig werde ich mich von Annalena so weit es geht fernhalten, auch wenn ich damit ihr und mir selbst weh tue. Es ist zu ihrem eigenen Wohl.

Im ersten Stock gehe ich hinaus aus dem Treppenhaus nach rechts in den Gang. Hier befinden sich die Kunstsäle, der Unterricht findet parallel statt, da man zwischen Musik und Kunst wählen konnte. Ich hatte mich für Ersteres entscheiden, ich habe auch vor dort mein mündliches Abitur abzulegen, auch wenn die Lehrerin als sehr streng gilt. 

Aber sie ist leicht zu beeindrucken, wenn man ein paar Redewendungen und Satzkonstruktionen auswendig lernt, so wie ich es einmal getan habe und dafür 15 Punkte bekommen habe. Obwohl ich am Ende ein bisschen was falsch gehabt habe, habe ich dennoch für diese Ausfrage die Höchstpunktzahl erhalten.

In Kunst hätte ich so etwas nie geschafft. Privat zeichne und male ich zwar sehr viel, aber ich schaffe es nicht nach Vorgaben in einem kreativen Fach zu arbeiten. Deshalb habe ich in der zehnten Klasse das Fach mit nur einer Drei im Zeugnis abgelegt.

Viele sind verwundert, warum ich kein Kunst habe, ich zeichne, das sagen mir einige, relativ gut und ich kann mit Acrylfarben gekonnt umgeben. Aber meine Leinwände mit der teuren Farbe und meine Bleistift- und Kugelschreiberzeichnungen reichen meiner Meinung nach nicht aus um es in den Zweierbereich in Kunst zu schaffen. In Musik wäre ich letztes Schuljahr fast in den Einserbereich gekommen.

Aber wegen Kunst bin ich nicht hier, ich möchte mir keine kreativen Ideen holen, sondern nur auf die Mädchentoilette gegenüber der Säle gehen.

Ich verkrieche mich öfter in den Toiletten, das Einzige, wozu öffentliche WCs meiner Meinung nach gut sind. Um sie zu benutzen gehe ich nie hin, ich kann nicht, wenn man mir dabei zuhört. Ich habe deswegen auch Probleme mich vor anderen Leuten umzuziehen, im Sportunterricht muss ich es zwar, aber sind wir auf Klassenfahrt dann wechsle ich meine Klamotten jedes Mal im Badezimmer.

Langsam aber doch bestimmt drücke ich die Tür auf, stelle meinen Becher mit dem Latte ab und stütze mich über das Keramikwaschbecken. Ich bin alleine, das habe ich mir auch erhofft. Ich drehe den Wasserhahn auf, das kühle Nass plätschert in das Becken und verschwindet danach langsam im Abfluss, eine Pfütze bleibt zurück.

Nach einigen Sekunden halte ich meine leicht zitternden Hände unter den Wasserstrahl und forme eine kleine Schale. Das darin gesammelte Nass schütte ich mir in mein Gesicht, als ich meinen Kopf näher heran bewege. Mir geht es dadurch besser, wenn auch nur ein kleines Bisschen.

Ich drehe den Hahn wieder zu und sehe, wie auch der letzte Tropfen Wasser verschwindet, nur eine feuchte Stelle rund um den Abfluss bleibt zurück. Es schimmert leicht, da etwas Licht durch ein kleines Fenster direkt hinein fällt.

Etwas unsicher betrachte ich mich im Spiegel, ein Mädchen, leichenblass, steht mit mir Auge in Auge. Manchmal kann ich nicht fassen, was aus mir geworden ist, meine Stirn liegt in Falten und tiefe Augenringe bilden sich bereits jetzt in meinem Gesicht. Ich werde erst 18 und nicht 38, aber meine Haut sagt etwas anderes.

Ich nehme wieder meinen Becher, den ich am Beckenrand neben dem grauen, leeren Seifenspender abgestellt habe, in meine noch immer unruhigen Hände und trinke einen Schluck. Als das bittere Kalt langsam meine Kehle hinunter fließt, fühle ich mich abgehärtet genug, dass ich den Schultag überleben kann. Ich muss lediglich Annalena aus dem Weg gehen, so schwer kann das ja nicht sein.

Ich öffne die Tür wieder, trete hinaus und gehe den Gang wieder zurück zum Treppenhaus. Nach zwei Stufensätzen bin ich bereits ganz oben und stehe zwischen den Musiksälen. Links ist der des anderen Kurses, der in den alle mit Musikadditum gehen, und rechts am Anfang des Ganges der Meine.

Olli geht in den anderen Kurs, er spielt seit Jahren Tuba. Auch Leon, der Akkordeon spielt und jeden damit auf Klassenfahrten nervt, besucht den anderen Kurs. Lena ist zusammen mit mir in dem ohne Additum, der Kurs ist ein bisschen kleiner, aber auch entspannter.

Sie ist wahrscheinlich schon drinnen, wie auch alle anderen, weil, wie ich auf der Uhr, die im Gang hängt, sehe, es in einer Minute klingelt. Schnell husche ich zur Tür hinein, die meine Musiklehrerin so eben schließen wollte, und schaue mich nach einem Platz um.

Es gibt hier keine richtigen Tische, sondern nur Stühle mit einem Brett zum Schreiben, die paarweise angeordnet sind, ich schaue bei wem noch ein Platz frei ist. Überrascht, aber sehr erleichtert stelle ich fest, dass Lena mir den Platz neben sich in der zweiten Reihe freigehalten hat. Lächelnd setze ich mich zu ihr, dummerweise sitzt auf meiner anderen Seite einen halben Meter entfernt Annalena neben Sofia, was ich aber erst festgestellt habe, als ich mich schon gesetzt habe.

Ich stelle meine Tasche vor meinen Füßen ab und erhasche mir einen Blick hinüber zu Annalena, die in genau diesem Moment das Gleiche tut. Um mir nichts anmerken zu lassen, drehe ich mich schnell zu Lena und nehme einen Schluck Kaffee.

"Emma! Im Unterricht wird nicht getrunken. Trinke es leer oder packe es bitte weg!"

Es gibt ja diese Leute, die soviel Illegales und Verbotenes tun und dabei nie erwischt werden. Bei mir ist dies das Gegenteil, deshalb halte ich mich normalerweise an Regeln.

Dieses Mal hat mich meine strenge Lehrerin Frau Wissel erwischt, deshalb trinke ich den Rest aus, stehe auf und gehe zum Mülleimer, der rechts neben der ersten Reihe unter einem Waschbecken steht. Alle starren mich an, erste Stunde und gleich ermahnt werden schafft auch nicht jeder.

Als ich mich wieder setze, überprüft die blonde, ältere Dame die Anwesenheit und schreibt daraufhin einen Sitzplan. Sie ist sehr organisiert, sie ist von der letzten Q12 die Oberstufenkoordinatorin gewesen, sie haben mir leid getan.

"Na, ist doch ein schöner Platz, oder?"

Während Frau Wissel beschäftigt ist, reden alle Schüler und Lena fängt ein Gespräch mit mir an. Sie denkt, sie hat alles richtig gemacht, weil ich nahe bei meinem Schwarm sitze. Sie hat jedoch keine Ahnung und ich lasse mir nichts anmerken, ich nicke nur.

Ich bemerke, dass Annalena hin und wieder zu mir hinüber blickt, bis sie sich dann über ihr Brett zu mir beugt. Ihre blauen Augen mustern mich zuerst fraglich, bevor sie zu reden anfängt.

"Können wir in der Pause reden? Bitte!"

Mit aller Kraft versuche ich nicht in den Bann ihrer unglaublichen Augen zu geraten, aber es ist zu spät und meine Lippen formen ein 'Okay' in ihre Richtung. Mit einem Lächeln dreht sie sich wieder weg, immer wenn ich denke, dass ich von ihr los bin, blickt sie mich mit ihren großen, blauen Augen an und da sind all meine Gefühle wieder.

Sie kontrolliert mich, wahrscheinlich macht sie dies nicht bewusst, aber sie schafft es jedes Mal. Schnell schüttele ich meinen Kopf um den Gedanken an sie loszuwerden, ich habe ihr zwar zugestimmt, aber ich werde einfach nicht kommen. Felix wird uns sehen und dann habe ich alles kaputt gemacht. Alles würde in Trümmern liegen, als hätte ein Amokläufer bei einem Porzellanwarenladen Halt gemacht nur um alles zu zerstören.

Ich weiß, dass ich Annalena jetzt mehr brauche als alles andere, aber Felix darf mich nicht in ihrer Nähe sehen.

Und wie gesagt, ich werde immer erwischt. Jedes verdammte Mal.

Kalter Kaffee - GirlxGirl #LightAward17Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt