Wahre Freunde erkennen

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"Ich habe einfach Angst. Angst, dass ich bald auf der Straße lande. Meine Mutter hat sich von meinem Stiefvater getrennt und er hat uns im Prinzip rausgeschmissen. Meine Mutter ist lange arbeitslos gewesen und die Miete ist so hoch, weil wir auf die Schnelle nichts Besseres gefunden haben. Sie hat zwar einen neuen Job, aber sie verdient zu wenig und darf ihn eigentlich wegen ihren immer schlimmer werdenden Rücken nicht mehr machen. Sie hat vor ein paar Jahren eine Operation gehabt und ist zweimal in Reha gewesen. Wir kommen kaum über die Runden, weil mein Stiefvater nicht zahlen will. Wir leben teilweise von zehn Euro in der Woche. Ich weiß nicht, wie lange wir das so noch schaffen, weil meiner Mutter geht es immer schlechter und das Familienklima ist so schlecht. Ich habe noch genug, was ich mein Mutter beichten muss, aber ich habe Angst. Sie wird zur Zeit oft handgreiflich, aber ich mache dagegen nichts, weil ich sonst zu meinem richtigen Vater muss. Er..."

Ich verstumme und blicke in mein halbleeres Glas, Annalena legt eine ihrer Hände auf meine, die zitternd das Trinkgefäß umfassen. Sie hat diesen Du-musst-nicht-weiterreden-wenn-du-nicht-willst-Blick in ihren blauen Augen, mit dem sie mich erneut mustert.

Ein Teil in mir will das, was ich sagen will, verdrängen und nie wieder zur Sprache kommen lassen, der andere Teil will mit der fürsorglichen Blondine darüber reden, weil ich es schon viel zu lange mit mir herumtrage. Ich hole tief Luft und fahre dann fort mit einer zittrigen und leiseren Stimme.

"Ich war erst neun oder zehn. Er hat mich angefasst, er hat mich in die Männerdusche vom Schwimmbad gezwungen. Ich wollte ihn danach nicht wieder sehen und nach etlichen Psychologen, bei denen mein Bruder und ich gewesen sind, ist ihm das Sorgerecht entzogen worden. Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm, er ist nur eine Karte und ein Fünfziger zu Weihnachten und zum Geburtstag, mehr nicht."

Ich nehme das Glas hoch und trinke es leer, Annalena ist mit ihrem Getränk schon länger fertig. Als ich es wieder abstelle, seufzt sie, blickt kurz weg um mir danach intensiv in die haselnussbraunen Augen zu schauen.

"Ich hatte keine Ahnung. Es tut mir alles so leid. Ich hätte eher für dich da sein müssen."

"Du hast nichts falsch gemacht. Ich habe einfach niemanden an mich herangelassen, weil ich den Glauben an Menschheit verloren habe."

"Du hast mich, vergiss das bitte nicht. Ich werde jetzt immer für dich da sein. Ich hätte es nicht ertragen können, wenn ich zu spät gewesen wäre und du jetzt tot wärst."

Darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Wie wäre es ihr ergangen, wenn sie wissen würde, dass sie mich hätte aufhalten können, aber einfach zu spät gewesen ist? Sie hätte sich die Schuld gegeben, das hätte ich ihr im Nachhinein nicht antun können.

Meine Liebe zu ihr ist so pur und echt, wenn es ihr schlecht geht, geht es mir auch schlecht. Ich vermisse sie unendlich, wenn sie in der Schule fehlt oder auch in den Ferien. Mein Herz rast jedes Mal, wenn ich sie sehe oder ihr Name nur erwähnt wird, ich kann nicht mehr ohne sie.

"Will das süße Pärchen zahlen?"

Die hübsche Kellnerin weckt mich aus meinen Gedanken, ich nehme meine Hand von dem Glas. Erst jetzt realisiere ich, etwas peinlich berührt, dass die Brünette uns für ein Paar hält. Ich möchte es eigentlich entkräften, aber ich bekomme kein Wort heraus, da ich einen Kloß im Hals habe. Den Schweiß in meinem glühenden Gesicht spürend blicke ich kurz zu Annalena, die ihren Geldbeutel aus ihrer braunen Tasche holt.

"6,50 Euro macht es."

Die Blondine zieht einen Fünf-Euro-Schein und ein Zwei-Euro-Stück aus ihrer pinken Geldbörse und legt es auf die Rechnung.

"Passt so. Und wir sind kein Paar."

"Oh. Sorry, da hab' ich wohl eure Blicke falsch gedeutet."

Sie nimmt das Geld, steckt es in ihren Geldbeutel, der Teil einer Bauchtasche ist und nimmt unsere Gläser mit, als sie zurück in die Küche geht.

Kalter Kaffee - GirlxGirl #LightAward17Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt