Ich atmete tief durch. "Lass sie gehen!" hörte ich mich schreien, ich wusste, dass wir keine Chance hatten. Weder ich noch meine Gefährten. Ich wusste nur, dass Naura weiterkommen muss. Ich war nicht wichtig.
Noch ein einziges Mal ließ ich meine Erinnerungen hochschwemmen. Meine Kindheit in Bykai, dieser kleinen, gemütlichen und geschäftigen Stadt. Meine Eltern, immer liebevoll, fürsorglich und ehrlich. Dieses eine Mädchen, das ich bis heute nicht loslassen konnte. Und dann wischte ich sie weg. Nur noch das Jetzt und Hier zählte. Mein Kopf war leer und grau, ich spürte nichts mehr außer der Vibration des Flusses. Noch einmal ließ ich meinen Blick über die Gesichter der anderen schweifen. Naura, Adu, Della, Faitar und Cannon. Dann schmiss ich auch sie weg. Mein Blick wurde stumpf, ausdruckslos und leer.
"Lauft", sagte ich mit eisiger Stimme, und sie war so kalt, dass selbst ich erschreckt wäre, wenn ich mich nicht komplett geleert hätte. Das Anasku drehte sich sofort um. Ich starrte in dessen grässliche, voller Wahnsinn und blinder Wut blutroten Augen. Das Ungeheuer riss sein stinkendes Maul auf und schrie. Dieser Ruf war so furchtbar, dass ich ihn bis in die Knochen spürte. Es klang wie das Reiben von Stein auf Glas, mit eigenartigem Gurgeln und Kreischen des Schmerzens. Das Echo bahnte sich den Weg durch den Nebel, wurde von Felsen zurückgeworfen und verschwand im Gebrüll des Flusses.
Meine Hand ruhte auf dem Schwertgriff, dessen Metall kühlte angenehm. Ich versuchte, mir noch irgendeinen Fluchtplan, irgendeine Strategie, irgendeine Taktik, die mich vielleicht retten könnte, zu überlegen...
Wieso? Ich werde sowieso sterben.
Es war unmöglich, gegen ein derartiges Wesen zu gewinnen. Muskelbepackter Körper, riesige Klauen, die einen sofort zermatschen. Größe eines Ochsen. Aber ich konnte es versuchen. Versuchen, für meine Gefährten Zeit zu gewinnen, damit sie abhauen konnten. Versuchen zu sterben.
Es war ein komisches Gefühl, zu wissen, dass meine Zeit auf dieser Welt abgelaufen war. Es war so, als ob die Rede von jemandem anderen war, nicht von mir. Sord, der Naura vor dem Sturz in den Abgrund bewahrt hat. Sord, der die Heilpflanze gegen das Gift der Bergschlange in der Höhle der Tausend Sterne gefunden hat. Sord, der niemals aufgeben würde. Das war er nicht mehr. Sord würde weiterleben, durch irgendein Wunder entkommen, irgendetwas machen, aber nicht aufgeben.
Doch ich gab nun auf. Sord wird nicht mehr leben. Aber wenigstens stirbt er nicht umsonst.
Das Brüllen des Flusses, der durch die Schlucht floss, wurde plötzlich gedämpfter, undeutlicher, und ich hörte nur noch das widerliche Kratzen von Klauen auf Stein, das röchelnde und schwere Atmen des Anaskus und mein eigenes Blut in den Ohren. Das Biest drängte mich langsam, spielend, genüsslich, aber sicher an der Abgrund. Nicht nach hinten schauen. Bloß nicht. Noch ein Schritt. Noch einen Fuß nach hinten. Das Anasku grinste. Es kostete die Momente meiner völligen Hilflosigkeit aus, es wusste, dass es für mich kein Entkommen gab.
Einfach mehr Zeit.
Ich musste als erster angreifen.
Als das Geschöpf des Wahnsinns nur noch zwei Armlängen von mir entfernt war, zog ich meine Klinge blitzschnell aus der Schwertscheide und zerschnitt dem Biest seine Fratze. Es heulte vor Schmerz auf und stürzte sich nach vorne um mich mit seinen gewaltigen Vorderpfoten zu packen. Doch ich war zu schnell, die Jahre des harten Drills im Kriegslager hatten sich gelohnt. Flink wie eine Schlange schritt ich nach links und rammte mein Schwert neben dessen rechte Schulter durch die Rippen. Das Tier stieß einen ohrenbetäubenden Laut aus und schnappte nach meiner Hand. Ich war gezwungen, das schützende Eisen loszulassen und zurückzutreten, und griff nach meinem Dolch, der mit Kobragift getränkt war und stach blind auf den dunklen Fellklumpen vor meinen Augen. Als sich das Biest unerwartet schnell zu mir drehte, sprang ich zurück und wäre fast in den Abgrund gefallen, wenn ich nicht meine Klinge wieder aus dem Körper des Anasku gezogen hätte. Die Wunde, die für jedes andere Wesen tödlich wäre, schien dem Ungeheuer nichts anzuhaben.
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Vergeltung
AdventureIch wollte ihm den Gefallen nicht tun, mich sterben zu sehen. Die schwarzen Punkte tanzten noch wilder, wurden immer und immer größer. Ich warf noch einen letzten Blick auf das Monster, in den ich all meine Wut und und all meinen Hass, all meine Ver...