Kapitel 4 -Ruhe

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Kurz darauf kann ich meine Augen wieder öffnen und sehe, dass die eingesperrte Wache versucht, den Schlüssel, den ich fallengelassen habe, zu bekommen. Und er schafft es tatsächlich fast... Mühevoll erhebe ich mich. Mein Kopf dröhnt aufs Äußerste, der Oberarm scheint ein einziges Feuer zu sein und ich höre nur ein eintöniges Fiepen. Benebelt realisiere ich nur, dass ich den Schlüssel nehmen muss. Ich muss. Eine Hand greift nach dem Eisenguss. Schiebt ihn zu mir. Dann wird mir übel und ich lande auf dem Boden.

Als nächstes höre ich ein Gurgeln. Und Metallgeklimper. Dann Stimmen und wieder ein Gurgeln. Stille. Ich spüre eine Hand, die unter meinen Nacken fasst. Ich... kenne diese Hand. Sie ist... So vertraut, und doch fremd. Warm und doch angenehm kühl... So wie... In den Bergen... Eine zweite Hand fährt unter meinem Rücken hindurch, und beide hieven meinen Oberkörper nach oben. Gequält mache ich die Augen auf, schließe sie sogleich aber wieder, da das Licht der Fackel zu sehr blendet. Mein Oberkörper wird nun gegen die kalte Wand gelehnt. Sie ist entsetzlich kalt, und ich will wieder diese Hände spüren. Sie waren so wundervoll... Und tatsächlich kommen sie wieder - diesmal legen sie sich auf meine. "Naura, du musst mir jetzt vertrauen. Ich werde deine Wunde heilen. Es wird wehtun." Diese Stimme... Ich kenne sie! Bloß woher... Ich nicke und presse die Zähne aufeinander, sowie die Lippen. Ich will nicht schreien. Die Hände gehen wieder. Doch dafür kommt etwas wieder, auf meinem Oberarm. Und es tut verdammt weh. Als ob man mir nicht nur eins sondern gleich fünf Schwerter hineingerammt hätte. Ich unterdrücke einen Schrei, doch dann breitet sich ein angenehmes Ziehen aus, der Schmerz ist wie weggeblasen und nach und nach fühle ich, dass sich mein Oberarm regeneriert. Und nach einer nicht allzu langer Zeit war da nichts mehr - kein Schmerz, kein Höllenfeuer, kein Ziehen. So als wäre nie ein Schwert dort gelandet. Die Hand legt sich auf mein Gesicht und ich werde müde. "Schlaf...", ist das letzte was ich höre, bevor ich ins Schwarze sinke.

Langsam ist es echt deprimierend, wie oft ich ohnmächtig, bewusstlos geschlagen oder am spannendsten Punkt wieder in die Traumwelt gezogen werde. Immer und immer wieder. Und es deprimiert mich wirklich. Und danach öffne ich mal wieder meine Augen...

... Und sehe Feuer. Ich will augenblicklich aufstehen und wegrennen, aber da sehe ich, dass es nur ein kleines Lagerfeuer ist und dass ich in Decken eingemummelt an einem Baum liege. Ich warte etwas, bis sich meine Augen an das spärliche Licht gewöhnt haben und sehe mir dann meine jetzige Umgebung an. Ich bin anscheinend in einem Wald gelandet, ein Kiefernmeer. Es riecht sehr gut, es reicht nach dem Baumharz, den Nadeln, nach Frische und den Tautropfen auf den Blättern von unzähligen Brennesseln. Und nach Zuhause. Nach dem kleinen Wald neben Bykai. In meiner Heimat lebte ich mit meiner Familie am Stadtrand, direkt neben einem Kiefernwald. Mein Vater war Holzfäller, erst später wurde er Waffenschmied, und nahm mich und Sord des öfteren mit. Ich habe mich schon da in die Natur verliebt - sie hat mich immer verstanden, sie war ein einziges Netz und verbunden mit allem und sie hat mich in ihren Kreis genommen, ließ mich daran teilhaben. Sord verstand diese magische Verbindung mit dem Wald nicht - er ging mit Vater auf die Jagd und tötete die Waldbewohner, genauso wie Vater. Kaltblütig, erbarmungslos. Ich versuchte jedoch immer, zu kommunizieren, ihre Sprache zu verstehen und ihre Zeichen zu deuten. Lernte, nur das zu nehmen, was ich zum Überleben brauchte. Lernte, giftige Pflanzen von ungiftigen zu unterscheiden, Wurzeln auszugraben, Wasserquellen aufzuspüren. Lernte, im Wald zu überleben. Später öffnete mein Vater eine Schmiede mitten in Bykai - und ich konnte nicht mehr in den Wald gehen, er war zu weit weg. Aber mein Vater verdiente endlich genug Geld, um uns ohne Jagd zu ernähren und sogar ein Haus zu kaufen. Doch diese Verbindung habe ich bisher nicht verloren, und jetzt schaue ich angestrengt in die Schatten. Denn irgendwer muss das Feuer angezündet haben und dieser Jemand muss noch hier sein, denn das Feuerchen wird von frischen Zweigen genährt, was bedeutet, dass sie noch nicht lange davor gepflückt sein müssen. Ich erkenne es an dem dichten Rauch, der vom Feuer aufsteigt, so kann nur junges Holz brennen. Und tatsächlich sehe ich eine Shiluette, gerade an der Grenze zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Sicherheit und Tod. Dieser Jemand hockt bewegungslos an eine Kiefer angelehnt und schaut auf das Feuer. Es ist ein Mann, der die Kapuze seiner Tunika tief ins Gesicht gezogen hat und man erkennt nur die Nasenspitze und die Lippen, die von einem gepflegten, kurzen, schwarzen Bart umgeben wird.

VergeltungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt