Kapitel 3: Wahre und falsche Tränen

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Sofort drehte sich das Anasku um - und sah Sord dessen Gesicht zu Stein geworden ist. So habe ich ihn noch nie erlebt, und ich würde alles tun, damit mir dieser Anblick erspart gewesen wäre. Doch das Leben war erbarmungslos. Und so musste ich mit ansehen, wie mein kleiner Bruder dem Monster eine Herausforderung stellt, welche wir nicht einmal zu fünft gewinnen konnten.

Und plötzlich durchschaue ich seinen Plan.

Ich wollte schreien, weinen, kreischen, irgendwas machen, damit er aufhört, damit er umkehrt, versucht zu flüchten, doch meine Kehle wurde wieder zusammengeschnürt. Ich sackte auf den Boden, als ich seinen flüchtigen Blick erhaschte. Seine sonst immer freundlichen und warmen grünen Augen strahlten nun nichts mehr als eiserne Entschlossenheit, Leere und durchdirngende Kälte aus. Ich erkannte ihn beim besten Willen nicht mehr.

Alle Zeit der Welt schien stehen geblieben zu sein, als er mit einer solch eisernen Stimme sagte, dass ein Schauer über meinen Rücken lief: "Lauft". Ich konne mich nicht bewegen, nicht verstehen, den Sinn dieses einen Wortes begreifen... Lauft. Was bedeutet das?! Wir können ihn unmöglich alleine zurücklassen...!  Doch dann stupste mich irgendwer an der Schulter an und ich hörte ein leises Wispern an meinem Ohr: "Wir müssen gehen, Naura. Tu, was dein Bruder gesagt hat". Doch es klang irgendwie gedämpft zu mir rüber, wie durch eine Wand, und mein Geist was wirr und verstand den Sinn der Worte nicht. Ich starrte immer noch Sord an, und das Anasku, dass sich langsam und spielend auf ihn zubewegte.

Und dann zerrte jemand an mir, Arme hoben mich vom Boden und schleppten meinen Körper, doch mein Geist war noch immer auf dem Plateau, hörte die ganze Zeit Sords Worte, immer und immer wieder. Ich wehrte mich, ich konnte nicht begreifen, warum sie ihn alleine ließen. Wie sie es über sich bringen konnten, ihn alleine zu lassen. Meinen kleiner Bruder... Heiße Tränen liefen mir das Gesicht hinunter und hinterließen dunkle Flecken auf den staubigen Boden. Nur nebenbei bemerkte ich, dass meine Gefährten die Seile der Brücke durchsägten, als wir auf der anderen Seite angelangt sind. Ich fing an zu kreischen, sie sollen aufhören damit, doch ich war zu schwach, und viel zu starke Arme hielten mich fest. Ich schrie, weinte und flehte die Lebewesen an, die da hinten den letzten Faden, der Sord geholfen hätte, zu fliehen, durchsägten und ich konnte nur zusehen und sie mit den übelsten Wörtern beschimpfte, die ich kannte.

Und als ich sah, dass die Brücke fiel, kreischte ich ein letzes Mal auf, hörte das heulende Echo gedämpft und sackte auf den Boden.

Ich rollte mich zusammen wie ein kleines Kätzchen und schluchzte, immer weiter und weiter, und die Tränen liefen immer weiter, sie hörten nicht auf, zu fließen. Und mein einziger Gedanke war, dass ich meinen Bruder nicht beschützen konnte. Ich habe versagt. Ich konnte ihn nicht retten. Ich habe verloren.

Plötzlich bemerkte ich, wie sich zwei vertraute und doch fremde, warme und doch angenehm kühle Arme um mich schlungen. Sie lösten den Knoten in meinem Hals, der die Tränen zu produzieren schien, und sie hörten auf, zu fließen. Meine Wunden brannten von dieser Berührung nicht mehr so stark, der Schmerz reduzierte sich auf ein leichtes Ziehen und die Müdigkeit streichte mir sanft eine seidene Decke über, und ich ließ mich erschöpft ins Vergessen gleiten...

Eine Träne kullert mir das Gesicht hinunter. Wie stark einen Erinnerungen doch mitreißen können... Doch jetzt darf ich mich nicht von Gefühlen leiten lassen, sondern muss hier rauskommen. Und zwar schleunigst.

Erstmal sollte ich meine Lage so sehen wie sie ist - ohne falschen Hoffnungen und ohne eine mögliche Chance. Ich schaute zu mir runter und entdeckte erst jetzt, dass ich immer noch meine Kleidung trage, die ich zu dieser Spionage angezogen hatte. Plötzlich kommt mir ein Funken, ein Gedankenblitz... Kann das sein?! Panisch greife ich nach meiner Jacke, öffne sie und fummelte an einem gut versteckten Knopf an der Innenseite. Und tatsächlich. Ich konnte mich gerade noch zurückhalten um nicht wie verrückt loszulachen und vor Freude bis zur Decke zu springen - wobei es bei meiner Körpergröße etwas schwierig werden dürfte. Aber ich habe sie. Ich hab sie immer noch! Der Grund, wofür ich hierher gekommen bin - und diese Hohlköpfe von Wachmänner haben es nicht einmal kapiert! Lautlos falte ich die vergilbte Karte auseinander und bewundere meinen Erfolg. Schnell stecke ich sie wieder ein und durchsuche meine Jacke weiter. Das Messer haben sie mir abgenommen, meine Kette nicht. Sonst hatte ich keine wertvollen Gegenstände dabei, deswegen widmete ich mich weiterhin der Begutachtung meiner Zelle. Aber es gab nur eine Möglichkeit, hier rauszukommen. Und die führte an dem Wachen vorbei. Er hat gesagt, er hätte bald Schichtwechsel... Wenn ich beide irgendwie bewusstlos schlagen könnte, dann hätte ich eine gewisse Galgenfrist sicher. Das wäre es... Ich muss sie nur in meine Zelle locken... Und ich hatte schon einen Plan.

"Duuuu, sag mal, gibt es hier Ratten? Ich hab starke Angst vor den Viechern!", quengelte ich. Der Mann drehte sich sichtlich erfreut über eine Möglichkeit, seine Langweile zu vertreiben, nach mir um und sagte mit seinem typischen widerlichen Grinsen: "Ja, manchmal laufen hier solche Dinger rum, und ich hab gehört, dass deine Zelle die beliebteste ist". Ich versuchte ein angeekeltes Gesicht zu machen, und meinte dann: "Wenn eine hier ist... Dann... Dann schrei ich!" Sein Gesicht wurde etwas blasser, es konnte natürlich auch Einbildung sein, bei dem spärlichem Licht, dass uns die Fackel bot, und er drohte: "Ich hoffe für die Ratten, dass sie sich nicht blicken lassen..." Ich hasste ihn immer mehr, mit seiner perversen und schleimigen Art bringt er mich noch wirklich zum Kotzen. Konzentrieren!!, schnauzt mich eine innere Stimme an, und sie hat so recht. Denn ich höre Schritte. Jetzt darf ich nicht versagen.

Ich sehe den neuen Wachen um die Ecke biegen, warte noch etwas, bis er nah genug rangekommen ist, hole ganz tief Luft und schreie, so laut ich kann. Ich würde mir ja selbst gerne die Ohren zuhalten, aber dann würde das Ablenkungsmanöver nicht funktionieren. Sofort dreht sich mein guter Freund um und ich sehe einen gequälten Ausdruck in seiner Miene, bevor er total hilflos herumzuzappeln beginnt. Ich gebe mein Bestes, und um es noch realistischer aussehen zu lassen, drücke ich mich in die Ecke, wo die Tür ist, und fuchtele mit den Armen. Der andere Wache ist mittlerweile auch schon angekommen und fragt mich stürmisch, was das soll. Ich schreie wieder (ich werde ein paar Tage heiser sein, aber hoffentlich lohnt es sich), doch diesmal ein Wort: "RAAAAAAAAATTEEEEEEEEEEEEEE!!!!!!!!" Und dann kommt das Highlight des Tages, ich heule und kreische was das Zeug hält. Auf Kommando weinen zu können ist in diesem Moment gar nicht schwer, ich musste mich sowieso noch über Sord ausheulen. Alle beiden Wachen sind hilflos, doch dann meint der erste: "Jetzt... Beruhig dich doch. Ich geh jetzt in die Zelle und töte die Ratte, verstanden? Du gehst zu meinem... Kollegen und wartest. Versprich mir, dass du dir die Hände zusammenbinden lässt?" Ich nicke eifrig. "Gutes Mädchen. Jetzt komm..." Es scheint tatsächlich zu klappen, ich kann mein Glück gar nicht fassen. Ich mache, was mir gesagt worden ist, und höre auf, zu schreien. Aber das Heulen muss noch sein.

Brav lasse ich mir meine Hände zusammenknoten und gehe zum neuen Wachen, gegen den ich mich lehne und mit neuer Wucht weine ich Krokodilstränen auf seine Rüstung. Er ist noch hilfloser als der erste und tätschelt mir sogar unbeholfen den Rücken. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass der andere die Tür aufbekommen hat und nun nach der nicht vorhandenen Ratte sucht. Die Schlüssel hat er dem neuen Wachen gegeben, und das war ein Fehler. Ein großer Fehler.

Denn ich drehe mich ruckartig zum Gesicht des Wachen und schlage ihn sofort bewusstlos. Jetzt muss es schnell gehen.

Ich schnappe mir sein Schwert und die Schlüssel und als der Wache, der nach der "Ratte" gesucht hat, sich umdrehte, war er schon eingesperrt. Mein Plan schien zu klappen. Nur wenn... Der Mann war wohl doch nicht so hohl wie ich dachte.

Blitzschnell zückte er auch sein Schwert und warf es zwischen den Gittern hindurch auf meinen rechten Oberarm.

Ich schrie auf, als ein stechender Schmerz die getroffene Stelle durchzuckte und krümmte mich, denn er pulsierte nun durch meinen ganzen Körper. Das letzte was ich mitbekam, ist, dass ich am Rande des Bewusstseins das Schwert irgendwie noch hinausziehen konnte. Dann wurde mir schwarz vor Augen und ich schlug hart auf den Boden.




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