1. Teil
Manchmal lächeln wir, um nicht weinen zu müssen.
Manchmal sind wir gewalttätig, um nicht verzweifeln zu müssen.
Aber nur wer auf unnötige Gewalt verzichtet, gewinnt wirklich an Stärke.
HANNAH
"Mann, Hannah! Jetzt mach schon!", drängt mich meine beste Freundin Felicia. Ihre Stimme klingt ungeduldig.
"Ja, ja. Lass dir Zeit. Wir gehen immerhin auf die Party meines Freundes! Da muss ich halbwegs okay aussehen", verteidige ich mich und krame weiter in meinem Schrank herum. Ich komme drauf, dass ich wieder einmal shoppen gehen muss. "Feli, ich hab keine Klamotten, verdammt!", rufe ich und lasse mich aufs Bett sinken. "Ach Schätzchen. Du brauchst immer viel zu lange. Lass mich mal", meint Felicia und stellt sich dorthin, wo ich gerade noch gestanden habe.
"Wie wäre es mit diesem Cocktailkleid?" Meine Freundin hält ein rotes, kurzes Kleid hoch. Ich seufze. "Das geht nicht ...", sage ich, und hoffe, dass sie nicht nachfragen wird. "Wieso?" Na toll.
"Ich pass da nicht mehr rein", sage ich und verziehe mein Gesicht zu einer Grimasse. Feli lacht los. "Dein Ernst? Wann hast du bitte so zugenommen? Ich melde dich demnächst im Fitnessstudio an, damit du einen Privattrainer bekommst.", meint sie. Sie scheint sich prächtig zu amüsieren. Ich schmolle weiter. Felicia zieht noch ein paar Kleider heraus und zeigt sie mir. Schließlich entscheiden wir uns für ein dunkelblaues Kleid, das bis zu den Knien reicht. Genau passend. Eigentlich bin ich ja nicht so der Typ für ein weit ausgeschnittenes Dekolleté, aber da ich eine Freundin habe, die genau das Gegenteil von mir ist (rote Haare, grüne Augen und ein wilder Charakter), ist mein Plan schon vor Jahren gescheitert. Okay, es war kein Plan, ich wollte mich aber auch nie ändern. Mir reicht es eigentlich, dass ich nicht die Beliebteste in der Klasse bin. Ich bin voll und ganz zufrieden mit meinem Status.
Nachdem ich das neue Outfit probiert habe, gehen Feli und ich ins Bad um uns zu schminken. Ich mache mir schwarze Smokey Eyes. Die passen mir am besten. Felicia schminkt sich genau gleich. Wir wollen schließlich im Partnerlook auftreten ... zumindest vom Gesicht her. Unsere Kleider sehen total anders aus. "Kommst du jetzt?" Nun bin ich diejenige, die ihre Freundin ungeduldig vorantreibt. Nach fünfzehn Minuten kommen wir im Garten meines Freundes Julian an.
"Hey! Endlich seid ihr hier. Ich dachte schon ihr kommt nicht mehr", begrüßt er uns.
Ein Begrüßungskuss folgt, doch im nächsten Moment wird er von einem Freund gerufen. Ich glaube, er erwartet so um die zwanzig Freunde. Er seufzt und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. Ich schmunzle. Feli und ich gehen zum großen Tisch, der im Garten aufgestellt ist. Dort begrüßen wir noch alle anderen Leute. Felicia ist natürlich gleich total abgelenkt und ist so vertieft in ein Gespräch mit einem Jungen, dass mit ihr nichts mehr zu machen ist. Ich lasse sie quatschen und kichern und gehe ein wenig im Garten herum. Jul hat keine Zeit für mich. Er grillt gerade. Nach einer Weile ruft er alle zum Essen. Es gibt Spieße mit Fleisch, Paprika, Tomaten und Zwiebel, dann noch Steaks und Folienkartoffeln. Ich komme zum Tisch und setze mich an einen freien Platz. Julian kommt zu mir und gibt mir etwas auf meinen Teller. Als mir der Geruch von Gemüse in die Nase steigt, bekomme ich besonders viel Hunger. Ich stehe total auf Gemüse!
Nach dem Essen hat mein Freund endlich Zeit für mich. Wir gehen Hand in Hand durch den großen Garten und blicken in den Himmel, der nur so von den tausenden Sternen leuchtet. Sie sind so schön hell. Manche blinken, andere nicht. Ich habe mal gehört, dass wir vielleicht Sterne sehen, die es seit Jahren überhaupt nicht mehr gibt, weil sie schon erloschen sind, ihr Schein aber so lange auf die Erde braucht, dass es so aussieht, als gäbe es diesen Stern noch. "Hübsch, nicht wahr?", fragt Julian und lächelt. Wir sehen uns an. Er beugt sich zu mir herüber und legt seine Lippen sanft auf meine. Im Hintergrund läuft die Stereoanlage. Ich kenne das Lied nicht, aber es gefällt mir auf Anhieb. Es ist ein etwas flotteres Stück, das von einem Mann gesungen wird.
Julian legt seine Hände auf meinen Rücken. Weiter unten hat er sie noch nie platziert. Wir haben noch nie miteinander geschlafen. Er hat mich auch noch nie richtig berührt. Das stört mich ein bisschen. Ist er wirklich so schüchtern und traut sich nicht, mich an zu fassen? "Ist was?", fragt Julian plötzlich.
"Nein, nein! Alles gut." Ich lächle ihn an. "Wie spät ist es?"
"Äh ..."Julian schaut auf seine Uhr. "Halb neun."
Nach ein paar Minuten gehen wir zurück zum Tisch und unterhalten uns mit den Gästen, bis auf einmal jemand die Musik lauter aufdreht und ruft: "Bewegt euren Arsch zu diesem geilen Beat und rockt die Nacht!" Sie ist eindeutig betrunken. Mit den Augen rollend stehe ich da und beobachte meine äußerst peinliche Freundin. Sie wirft ihre High Heels in hohem Bogen ins Pool, und fängt an zu tanzen, wenn man das überhaupt so nennen kann. Feli winkt mich zu sich. Ich quetsche mich durch die nun ebenfalls tanzende Menge und gelange endlich zu Felicia. Wir tanzen lang, bis wir vor Erschöpfung lachend ins Gras fallen.
"Ich bin echt müde", sage ich und gähne, nachdem wir eine Lachpause eingelegt haben.
"Ich auch. Es ist schon elf Uhr. Womöglich gehe ich noch ein bisschen in die Altstadt."
"Nein, das tust du nicht! Du schwankst bereits herum, wenn du gehst! Ich fahre dich nach Hause und dann schläfst du dich aus", bestimme ich und erhebe mich vom Boden. Wir bleiben noch eine halbe Stunde und trinken ein Glas Sekt. Doch schließlich müssen wir wirklich nach Hause. "Willst du nicht hier bleiben? Noch eine Weile?", versucht mich Jul zu überreden. Ich schüttle den Kopf. "Sorry. Das geht nicht. Ich muss heim." Julian gibt mir noch einen Abschiedskuss. Nach fünfzehn Minuten sind wir wieder zu Hause.
"Ciao! Ich ruf dich an. Vielleicht morgen, ich weiß es noch nicht", meint Feli und drückt mich an sich.
"Gut. Dann eine gute Nacht!", wünsche ich ihr und erwidere ihre Umarmung.
"Die werde ich haben", sagt Felicia und zwinkert mir zu. Dann zieht sie etwas wankend ab.
DU LIEST GERADE
In den Händen meines Entführers
RandomVier Menschen gegen einen - ist das nicht unfair? Bekanntlich kann man sich sein Schicksal nicht aussuchen, und das lernt Hannah in diesem Kapitel ihres Lebens. Best Ranking: Platz 1 in #eingesperrt Platz 5 in #kriminalität Cover by @streetcloud