13. Die unersättliche Leere

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Hunger und Durst waren ihr vergangen. Sie spürte weder heiss noch kalt. Keine Sonne, kein Regen... Niemand konnte sie aufheitern. Sie war untröstlich, denn jedes Mal, als sie die Augen schloss, lag vor ihr ein toter Körper. Sein Lachen war längstens verstummt, seine Witze schienen aus ihrer Erinnerung verschwunden und selbst seine Gesichtszüge verloren an Kontur vor ihrem inneren Auge, als würde sie durch eine Tränenschicht blicken, verschwommen und verzogen. Nichts schien mer richtig. Kein Wort, kein Satz, kein Gefühl.

"Aurora, bitte... Trink zumindest etwas Wasser, oder soll ich dir Tee machen?" Lilian sass besorgt an ihrem Bett. Doch die scheinbar Kranke reagierte nicht, sie konnte es nicht rückgängig machen. Sie konnte nicht die Anschuldigungen zurücknehmen, es war unmöglich die Zeit zurückzuspulen. Doch genau dahin wollte sie: zurück.

Hätte sie ihn nicht alleine gelassen, wäre sie doch still mit ihm mitgerannt in einem genervten Schweigen. Oder auch in einer lauten Diskussion samt Schimpfereien und Beleidigungen. Alles wäre ihr recht gewesen statt dieser Situation.

"Es ist fürchterlich schwer, aber du darfst dich nicht selbst so zerstören", redete die Ärztin weiter auf sie ein, doch irgendwie kamen die Worte nie bei ihren Ohren an. Sie spürte bloss eine seltsame Berührung an ihrem Oberarm, ein Streichen, ganz sachte, doch es löste in ihr keine Emotionen aus. Ihr war bewusst, es war eine Geste des Trostes, aber diese wirkte nicht.
"Na gut, ich lasse mal das Wasser und die Suppe hier stehen. Vielleicht kriegst du ja auf etwas von Beidem Lust. Ich bringe dir ein wenig später noch einen Tee", redete die Blondine vor sich hin. Ehe sie ging, legte sie eine Hand prüfend auf die Stirn Auroras, aber die Haut erschien keinesfalls auffällig heiss. Eher sogar kühl, gar kalt.
"Wenn du dich nicht ernährst, lassen deine Instinkte nach... Und du liegst bereits den dritten Tag auf dem Bett, ohne einen Happen zu essen", fügte Lilian noch an, ehe sie die Tür hinter sich schloss und mit sorgenvollem Gesicht wieder an die Arbeit ging.

Drei Tage? Die Worte schwirrten in ihrem sonst so leeren Kopf. So viel Zeit war verstrichen, während sie bloss herumlag. Bloss ab und zu war sie für eine kühle Dusche aufgestanden oder allgemein ins Bad zu gehen, weil ihre Blase sie zwang. Aber sonderlich Lust auf Bewegung oder gar irgendwelche Unterhaltungen hatte sie nie. Auch jetzt nicht, weshalb sie innerlich umso frustrierter war, als ein Klopfen an die Türe sie ein weiteres Mal störte.
Lilian hatte recht, ihr Wolf liess nach. Sie hatte keine Schritte kommen gehört, selbst das Klopfen klang so ununterscheidbar unter ihren Besuchern.

Es waren übrigens doch mehr als erwartet. Die anderen Rudelmitglieder schienen gemerkt zu haben, dass trotz Biss statt Blut noch immer ein Freund von ihnen gegangen war.

Sie lag ahnungslos herum, konnte nicht mehr einschätzen, wer denn nun vor ihrer Türe stand. Das verdarb ihr den Appetit noch mehr, denn sie hasste die Ungewissheit. Sie packte das Kissen, auf dem sie lag, zog es unter ihrem Kopf hervor und liess es auf ihr Gesicht plumpsen, als könnte es sie vor allem und jedem verstecken.

Die Türe ging auf, ohne zu quietschen zwar, aber sie spürte den Luftzug vom Aufschwung an ihren in dünne, blaue Söckchen gepackten Füssen.
Eine warme Hand legte sich auf ihre, die sie auf dem Kissen hielt, um es sich selbst stärker ins Gesicht zu drücken.

Ganz unauffällig stieg ihr der Geruch seines Aftershaves in die Nase, vermischt mit seinem eigenen wäldlichen Duft. Tatsächlich war sie noch genug bei Verstand, um ihn an der blossen Berührung zu erkennen.
"Aurora...", kam es ganz heiser seinerseits. Durch das Raue in seiner Stimme, spürte sie die Gänsehaut ihren Arm hinaufkriechen. Das musste er bestimmt bemerkt haben, sie trug obenrum nämlich bloss ein Tanktop. "Bitte nimm das Kissen vom Gesicht und rede mit mir." Es war formuliert, als würde sie ihm dadurch einen Gefallen machen, doch die Reste ihres Instinkts spürten einen Befehl aus der Tonlage heraus. Deshalb überwand sie sich und zog das Kissen von ihrem Kopf, wodurch sie ihr Haar unelegant elektrisch aufgeladen hatte.
"Geht doch", meinte er mit freundlicher Stimme. Ein aufheiterndes Lächeln huschte über sein Gesicht, verschwand aber sofort, als sie ihn noch immer monoton sowie emotionslos ansah.
Sie seufzte, als sie diesen Frust in seinem Blick bemerkte. Er wollte ihr wirklich helfen.
"Ich weiss, ich hätte bei ihm sein müssen...", grummelte sie schrecklich enttäuscht von sich und zog sich die Decke über den Kopf. Er strubelte ihr liebevoll über das lockige Haar, das noch hervorlugte.
"Vielleicht ist es besser, dass du nicht da warst. Vielleicht wärst du jetzt bei ihm...", versuchte er sie zu beruhigen. Doch in seinem Leben hatte er schon oft feststellen müssen, dass es seine Schwäche war.
"Leith, ich mag nicht mehr...", flüsterte sie ganz leise in die Decke, doch ihr Gesprächspartner hörte es, das wusste sie.
"Dann ruh dich aus", entgegnete er einfühlsam. Ganz scheu zog sie den Stoff aus ihrem Gesicht zurück.
"Es tut mir leid, dass ich euch die letzten Tage so im Stich gelassen habe...", entschuldigte sie sich reuevoll. Sie knautschte am Saum der Decke herum.
"Macht nichts, dich hat es am meisten getroffen. Dann wahrscheinlich Jason, schliesslich naja... Er..." Leith wusste nicht, wie er den Satz ausformulieren sollte. Er wollte in ihr keine brutalen Bilder erwecken.
"Ich bin so verwirrt", setzte sie wieder an, sie wusste nicht, woher der plötzliche Drang zu reden kam, doch sie ging ihm nach, "Es ist entsetzlich, es ist so entsetzlich. Dabei denke ich mir: ich tue das doch auch! Wir alle tuen das. Aber es interessiert uns dabei nicht, ob sie Freunde ode  Familie haben... Aber ihre Verwandten, sie..." Ehe sie beenden konnte, brach sie in Tränen aus. Es war erstaunlich erleichternd. Sie hielt sich die Hände vors Gesicht, es war ihr nämlich dennoch unangenehm, wenn der Alpha sie weinen sah.
Sie zuckte zusammen, als sie spürte, wie ihr das Haar hinter die Schulter gelegt wurde. Dann fuhr er ganz sachte ihre Finger nach.
Verheult nahm sie die Hände aus dem Gesicht, ihre Augen waren rot und aufgequollen.
"Komm her..." Er zog sie ihn eine Umarmung. Ihre Arme samt Händen befanden sich zwischen ihm und ihr als letzte Distanz. Dabei spürte sie dennoch zum ersten Mal seit drei Tagen wieder Wärme und Geborgenheit.
Er strich ihr beruhigend über den Rücken, während sie in seine rechte Schulter schluchzte. Der graue Stoff seines Tshirts färbte sich dunkel von ihren Tränen.
Ihre Sinne waren noch immer abgestumpft, doch sie fragte sich, wie sich dieser Moment in all den Dimensionen anfühlen würde, wenn sie noch den Geruchs- und Gehörsinn eines Wolfes ausgeprägt hatte. Würde ihr das Salzige ihrer Tränen in die Nase steigen und dabei an den Geruch des Meeres erinnern? Könnte sie seinen Herzschlag hören, wäre er regelmässig oder genauso aufgewühlt wie ihrer?

Irgendwann verstummte sie. Der Flüssigkeitsvorrat ging mit den Wasserfällen aus den Augen auch dem Ende zu. Also wurde ihr Körper bloss noch von leeren, hektischen Luftschnappern erschüttert. Leith bemerkte ihr verhalten. Sofort griff er nach dem Wasser auf dem Nachttisch und hielt es ihr vor die Nase. Mit zittrigen Händen nahm sie es an und trank innert weniger Sekunden aus.
"Fühlst du dich etwas besser?", erkundigte er sich vorsichtig.
"Mhm", antwortete sie knapp, ehe sie mit dem Kopf leicht nach vorne kippte und an seinem Brustbein stoppte.
Ihr Bedürfnis nach Nähe hatte er nicht erwartet, weshalb ihn das Verhalten verunsicherte. Inzwischen hörte sie an ihm angelehnt  wie sein Herz in regelmässigen Abständen schlug, aber schneller als es sollte.

"Leith, wir brauchen dich... Da ist so ein Baum umge...". Lynhart war ohne Anklopfen ins Zimmer geplatzt. "Wie rührend", kommentierte er die Szene. "Kommst du?", wendete er sich dann Leith zu.
"Ich...", setzte der Angesprochene an, doch ein Ziehen an seinem kurzen Ärmel, lenkte ihn ab.
"Bitte bleib", hauchte sie heiser. Dann hob sie den Blick, er sah ihre dichten, langen Wimpern, das Grün in ihren Augen strahlte noch stärker als sonst, wenn sie geschwollen waren.
"Leith?", hakte Lynhart nach, dem das Zögern des Rudelführers eindeutig nicht gefiel. Die hellen Brauen des Betas kamen sich näher, grimmig sah er Leith an, während er noch immer bloss durch einen Spalt ins Zimmer blickte.
"Ich komme nach", sagte der Alpha nach längerem Überlegen.
Lynhart krachte verdächtig laut die Türe zu.

Hoffentlich wäre das kein Fehler, Leith aufzuhalten für ihre Probleme. Sorge schoss ihr in den Kopf, aber verschwand sogleich wieder, als er sie ansah.
"Danke", sagte sie schlicht, statt weiter über die Konsequenzen nachzudenken.
"Ist okay... Für dich bleibe ich gerne." Dann drückte er ihr einen sanften Kuss an den Haaransatz. Sie liess sich fallen in dem Gefühl, das seine Lippen an ihrer Haut auslösten. "Hey eh... Was machst d..." Und da lag er nun. Ganz dicht neben ihr auf dem grossen Bett mit schwarzem Holz. Ihre Gesichter waren unnatürlich nahe. Aurora hatte ihn einfach heruntergezogen.
Sie musterte seine weissen Wimpern, die im Licht blaugrauen Augen und fuhr mit der Hand dann sachte seine Gesichtskonturen nach.
Ihm stockte währenddessen der Atem. Unbeholfen liess er sie tun, was sie wollte. Doch scheinbar zu schnell hörte sie auf mit den Zärtlichkeiten, kuschelte sich noch an seine Seite und schloss erschöpft die Augen.
Er beobachtete sie, wie sie in Embryoposition an ihn gelehnt dalag. Es brauchte nicht lange, da verstummten alle Schluchzer, auch ihr Atem ging regelmässig.
Er wollte aufstehen, doch sein Inneres gestattete es nicht. Also blieb er noch liegen, bewegungslos und langsam auch einnickend.

Er heulte den Mond anWo Geschichten leben. Entdecke jetzt