8. Das heimliche Wissen

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"Wie machst du das so schnell?", rief er begeistert aus, als er sah, wie Leith innerhalb weniger Augenblicke wieder seine menschliche Gestalt angenommen hatte. Er selbst hatte sich vorher beinahe vier Minuten damit abgequält, was bei Transformationszeiten als ziemlich schwache Leistung galt.
"Einerseits die viele Übung, ich bin doppelt so alt wie du", sprach Leith ganz nebensächlich, während er in seine Kleidung schlüpfte. "Andererseits ist die Dauer der Verwandlung auch genetisch bedingt", erklärte er weiter. Als er sich endlich das blassgraue Poloshirt übergezogen hatte, fügte er noch an: "Mein Vater galt als ein Verwandlungskünstler. Er benötigte bloss acht Sekunden."
Vor Erstaunen weiteten sich Kais Augen. Wenige Augenblicke später überkam ihn aber der Frust.
"Während meiner Verwandlungszeit werde ich zerfleischt", knurrte er unzufrieden mit sich. Von seinem Gesprächspartner kam ein heiteres Lachen.
"Bestimmt nicht, du kriegst das noch in den Griff. Hast du Hunger?", erkundigte sich der Alpha, der sich gerade mehr vorkam wie ein Vater.

Es war seltsam, jemanden so unbekannten derart nahe an sich heranzulassen. Doch er hatte ein gutes Gefühl dabei, sein Instinkt gönnte es ihm.

Leith musste zugeben, er dachte tatsächlich seit einer Weile über eine eigene Familie nach. Schliesslich wurde er auch nicht jünger und sein Rudel bräuchte einen wohlerzogenen Nachfolger. Nur schien er bisher einfach nicht die perfekte Kandidatin für die Rolle der Luna gefunden zu haben. Zwar gab es immer wieder eine Frau, die ihm ins Auge sprang oder auch ganz besondere Individuen, die seine Aufmerksamkeit über längere Zeit auf sich zogen, aber keine von ihnen passte in die verantwortungsvolle Rolle. Zu viele Bedingungen wurden gestellt, zu wenige Erwartungen erfüllt...

Manchmal wüschte er sich, dass ihm das Schicksal einfach eine Seelenverwandte aufzwingen würde. Immerhin wäre dann ein Problem aus der Welt geschafft. Aber es galt als unglaublich selten, eine Seele zu teilen, weshalb in seinem Bekanntenkreis niemand war, der damit Erfahrung gemacht hatte. Höchstens so ein Cousin zweiten Grades vom Freund der Nichte der Frau des Onkels seiner Grossmutter...

"Leith, worüber denkst du nach?", unterbrach der Neue seinen Gedankengang. Der ernste Ausdruck des Jungen überraschte ihn.
"Ach, nichts wichtiges..."
"Du lügst, ich glaube, es belastet dich. Sonst bräuchtest du bestimmt nicht so lange, um die Schnürsenkel zu binden", deutete Kai das Verhalten des Rudelführers komplett richtig, wobei er ihn auch dezent darauf hingewiesen hatte, wie unförmig die Bänder an seinen Schuhen herumlagen. Doch Leith sah ihn bloss an, aber weigerte sich, auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen. "Wieso schweigst du denn?" Es war schwer, Kais Emotionen bei diesen Worten herauszulesen. Eine undefinierbare Mischung aus Verwirrtheit, Interesse und Unverständnis schwang in seiner Stimme mit.
"Ich habe bloss darüber nachgedacht, wie alt ich bereits bin", gab der Rudelführer zu, ohne dabei wirklich zu lügen.
"Wegen den grauen Haaren?", scherzte der Junge, was ihm dem Gesichtsausdruck des Betroffenen nach misslang.
"Sehr witzig...", kommentierte der Alpha den schlechten Witz.
"Leith... Wieso bist du so?", wechselte Kai nun das Thema. Er sah sein Gegenüber mit voller Aufmerksamkeit an. Leith seufzte, liess sich neben seinem neuen Schützling auf die Holzbank der Kabine fallen und begann zu sprechen:
"Nun, es ist ein Gendefekt, ähnlich wie deine unterschiedlichen Augenfarben...", erklärte Leith möglichst neutral. Es wunderte ihn schon, dass der Junge solch eine Frage gestellt hatte und, wie es aussah, kaum eine Ahnung davon hat.
"Meine Augen...", gab Kai nachdenklich von sich.
"In meinem Fall ist es nichts gefährliches, selbst die Risiken, die Albinismus mit sich brigen kann, werden von meinem inneren Wolf unterdrückt. So bleibe ich gesund."
"Was ist mit mir?", erkundigte sich der 14-Jährige neugierig.
"Wir wissen bisher nicht, ob du irgendwelche Schäden davon hast. Aber dein Heilprozess ist ungewöhnlich schnell und..." Leith stutzte, sollte er dem Knaben von den aussergewöhnlichen Fähigkeiten erzählen, die er scheinbar aufwies?
"Und?", hakte dieser nach. Mit dem Körper lehnte er sich immer mehr zum Rudelführer, was ihm das Gefühl gab, tatsächlich auch den Antworten näher zu kommen.
"Und vielleicht hängt deine verlangsamte Verwandlung damit zusammen", vollendete Leith den Satz. "Lass uns zurückgehen und das Gespräch ein späteres Mal fortsetzen. Ich hab noch zu tun."
Womit sich beide erhoben, um gemütlich ins Hauptgebäude zu marschieren.

Er heulte den Mond anWo Geschichten leben. Entdecke jetzt