Prolog

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Als ich zu lesen begann, begann ich zu leben.
Erst durch das Schmökern in Büchern wurde mir nämlich klar, dass es da draußen in der Welt viel mehr zu entdecken gab, als ich bisher auch nur hatte erahnen können. Bevor ich anfing zu lesen, hatte meine Welt nur aus meinem winzigen Kinderzimmer bestanden, in dem ich sechs Jahre lang ein trostloses, recht ereignisloses Dasein gefristet hatte, denn es gab viele Gründe, warum mich meine Eltern behalten hatten – aber keiner davon war Liebe.
Meine Eltern hatten sich nie sonderlich für mich interessiert, nur das Nötigste mit mir gesprochen und mich ausschließlich zum Essen oder bei Besuch in ihrer Nähe geduldet. Ich war ein »Unfall« gewesen, ein ungewolltes Kind. Es hätte mich nie gegeben, wären da nicht einige gewisse Umstände gewesen, die dazu geführt hatten, dass ich nicht abgetrieben worden war. Ich wusste, dass meine mittlerweile verstorbene Großmutter meine Mutter enterbt hätte, wenn sie mich nicht behalten hätte, weil sie sich so sehr ein Enkelkind gewünscht hatte. Und so geldgierig, wie meine Eltern waren, hatten sie auf diese nicht gerade kleine Summe Geld in keinem Fall verzichten wollen. Zusätzlich kam dann noch die Erwartung der Freunde und Nachbarn, mich aufwachsen zu sehen. Es wäre also gar nicht infrage gekommen, mich abzutreiben oder wegzugeben.
So ließen meine Erzeuger mich also bei ihnen wohnen, aber ich saß immer, wenn gerade kein Besuch da war, alleine in meinem Zimmer. Nicht einmal in einen Kindergarten hatten sie mich gebracht. Als ich zur Schule gehen musste, hatten meine Eltern mich zur Ganztagsbetreuung angemeldet, damit ich ihnen vom Hals blieb.
Doch als ich das Lesen lernte, wurde mir plötzlich klar, dass es auch andere Dinge im Leben gab außer der Einsamkeit: unter anderem lernte ich auf den Buchseiten die Freundschaft kennen. Denn als ich mein erstes Buch über zwei beste Freundinnen verschlungen hatte, da wollte ich unbedingt auch mit anderen spielen und so die Magie der Freundschaft kennen lernen. Meine erste Freundin in der Grundschule hieß Emma Kreuz, ein stilles, eher introvertiertes Mädchen mit hellbraunen Haaren und einer Brille. Ich hatte sie damals schüchtern gefragt, ob wir einmal zusammen lesen wollten, und so wurde das Lesen unser gemeinsames Ritual in der Ganztagsbetreuung, denn auch sie war immer den ganzen Tag lang in der Schule, was aber daran lag, dass ihre Eltern beide berufstätig waren und sich so nicht um sie kümmern konnten, obwohl sie es sicher gewollt hätten. Meine Eltern wollten sich nicht um mich kümmern. Emma und ich wurden beste Freundinnen, die sich ohne viele Worte verstanden.
Der einzige Satz, den meine Mutter mit Freude aus meinem Mund vernahm, lautete: »Ich brauche neue Bücher.« Denn dann ging sie in die kleine Bibliothek unserer Stadt, lieh einige Bücher aus und gab sie mir – so hatte sie für einige Tage ihre Ruhe, und ich träumte mich sehnsuchtsvoll in fremde Welten. Die Buchseiten wurden mein geliebtes Zuhause, und wenn Emma ab und an zu Besuch kam oder ich zu ihr ging (was eindeutig öfters vorkam, da meine Eltern meine Besucher nicht duldeten), dann unterhielten wir uns immer über unsere spannenden Abenteuer, die wir Seite an Seite mit unseren Buchhelden erlebt hatten.
Am Ende unserer Grundschulzeit wechselten wir auf das Gymnasium. Mit etwa zwölf Jahren begann ich gezwungenermaßen, den gesamten Haushalt bis auf den Papierkram zu managen, wodurch ich sehr schnell selbstständig wurde. Mein Vater war nämlich nach dem Verlust seines Jobs dem Alkohol verfallen, und meine Mutter tat es ihm aufgrund ihrer daraus resultierenden, jahrelangen Depressionen einige Jahre später, als ich gerade siebzehn geworden war, gleich. Wenn ich sie beide nicht täglich genötigt hätte, etwas Essbares zu sich zu nehmen, dann wären sie wohl verhungert. So wurde ich im Laufe der Jahre immer unabhängiger von meinen Eltern, die genug andere Probleme hatten, als einem Teenager zu zeigen, wie man erwachsen wird.
Tja, und heute war ich achtzehn Jahre alt, begann gerade mein letztes Schuljahr und würde bald ausziehen. Dann mussten meine Eltern sehen, wo sie blieben – und ich konnte endlich mein eigenes Leben leben.

Rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt