Kapitel 1

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Mit elf weiteren Schülern stand ich vor dem Klassenraum, in dem die erste Deutschstunde für dieses Schuljahr stattfinden sollte. Es war der Montag nach den Sommerferien und die meisten meiner Mitschüler waren braun gebrannt vom Urlaub. Ich war noch nie im Urlaub gewesen.
Emma, meine beste und einzige Freundin, stand neben mir und beobachtete den Jungen, in den sie heimlich verliebt war. Er hieß Max, war ein großer, blonder Kerl und grinste immer ziemlich dämlich. Ein Junge wie Max hätte Emma oder mich niemals nur eines einzigen Blickes gewürdigt, denn wir gehörten nicht in sein »Beuteschema«, wie er es gerne nannte. Jeder wusste, dass er klapperdürre, strohdumme Blondinen bevorzugte, die ihm zu Füßen lagen und ihn anhimmelten. Von denen gab es auf der Schule genug, was mich angesichts der Tatsache, dass wir auf ein Gymnasium gingen, immer etwas verwunderte. Emmas Intelligenz wäre er nicht einmal annähernd gewachsen, weil er nichts als Unfug im Kopf hatte. Meine Freundin schämte sich dafür, in ihn verliebt zu sein, doch gegen Gefühle konnte man bekanntlich nichts ausrichten. So starrte sie ihn jedes Mal, wenn sie ihn sah, einfach nur an und unternahm nichts weiter in der Hoffnung, ihre Gefühle für Max würden irgendwann von selbst verschwinden.
Ich war noch nie verliebt gewesen, und wenn ich Emma so traurig sah, wollte ich das auch gar nicht sein. Über Liebe hatte ich schon vieles gelesen, sowohl Gutes als auch Schlechtes. Sie konnte einen zum glücklichsten Menschen auf dem ganzen Erdball machen – oder zum unglücklichsten, und das manchmal sogar gleichzeitig. Diesen Widerspruch hatte ich nie nachvollziehen können. Wie konnte man zur selben Zeit auf Wolke sieben schweben und am Boden zerstört sein?
Die Schulglocke läutete und riss mich so aus meinen Gedanken. Jetzt warteten wir neugierig auf unsere neue Lehrerin. Unsere alte, Frau Baum, war schwanger geworden und wir bekamen nun eine neue Lehrkraft. Bisher hatte ich nur strenge Lehrer und Lehrerinnen in Deutsch gehabt, die ich alle nicht besonders gemocht hatte. Außer Emma mochte ich aber auch niemanden besonders.
Als Schritte zu hören waren, drehten sich alle, die auf dem Gang standen, gespannt um.
Eine hübsche, junge Lehrerin mit roten Locken kam um die Ecke gelaufen. Sie trug ein karmesinrotes, kurzes Kleid und einen schwarzen Bolero darüber, doch ihr Aussehen nahm ich nur am Rande wahr. Was mich sofort irritierte, war, dass sie von einer warmen, fröhlichen Aura umgeben war, die sie durch ihr freundliches Lächeln nach außen projizierte. Das war mir bisher bei keinem anderen Lehrer aufgefallen. Es schien, als freue sie sich auf den Unterricht mit uns. Andere Lehrer waren froh, das Klassenzimmer am Ende der Stunde wieder verlassen zu dürfen.
Ich stand da wie eine Säule, unfähig, mich zu bewegen, als die Lehrerin an mir vorbeilief und mir einen neugierigen und fröhlichen Blick zuwarf. Erst Emmas sanfter Stupser brachte mich in die Realität zurück, und so folgte ich meiner Freundin als Letzte ins Klassenzimmer, immer noch perplex.
Die hinteren Reihen waren aufgrund der Sitzgewohnheiten der anderen Schüler sofort belegt, und so setzten Emma und ich uns ganz nach vorne vor das Pult, wo unsere neue Lehrerin bereits ihre Tasche abgestellt hatte und darauf wartete, dass Ruhe einkehrte. Ich konnte nicht anders, als sie interessiert zu mustern.
»Hallo, liebe Schülerinnen und Schüler«, grüßte sie uns und schaute strahlend umher Sie hatte eine warme, herzliche und sehr angenehme Stimme. Das machte sie mir noch sympathischer. »Es freut mich sehr, dass ich euch dieses Jahr im Fach Deutsch unterrichten darf. Mein Name ist Juliana Gratus.«
Juliana. Was für ein hübscher Name. Eine mir bekannte Romanfigur hieß so.
Ich sah zu Emma, die gerade gedankenverloren in ihrem Kalender blätterte. Als sie meinen Blick spürte, sah sie auf, und ich warf ihr einen mitleidigen Blick zu, nachdem ich den schwarz umrandeten Tag in ihrem Taschenkalender gesehen hatte. Es war der morgige Tag. Sie hatte es gerade nicht leicht, denn ihre Mutter war vor zwei Tagen verstorben, und morgen Mittag sollte die Beerdigung stattfinden. Unter dem Tisch strich ich ihr mitfühlend über ihre freie Hand. Emma nickte mir dankbar zu.
»Unser erstes Thema wird die Liebeslyrik sein«, stellte uns Frau Gratus den Anfang ihres Programms für dieses Schuljahr vor. »Soweit ich weiß, habt ihr das auf dieses Schuljahr verschoben. Es ist eines meiner Lieblingsthemen, weswegen ich mich auch darauf freue, es mit euch durchzunehmen.«
»Sind wir ihr erster Kurs?«, fragte Sandra, ein Mädchen, mit dem ich nur wenig Unterricht zusammen hatte und die mir wegen ihrer verrückten und vorlauten Art sehr unsympathisch war. Ich hätte ihr in diesem Moment eine Ohrfeige geben können. Solch eine Frage stellte man doch nicht in der ersten Stunde!
»Auf dieser Schule schon«, antwortete Frau Gratus und zog sich so geschickt aus der Affäre, denn wir wussten nicht, ob sie zuvor an einer anderen Schule unterrichtet hatte oder nicht. Und das freundliches Lächeln verschwand bei ihrer Antwort nicht aus ihrem Gesicht. Zufrieden sah ich zu, wie Sandra ihrer besten Freundin Jenny, einer Blondine mit schwarz geschminkten Augen, einen enttäuschten Blick zuwarf und dann aus dem Fenster stierte, als gäbe es im Moment nichts Wichtigeres, als die Bäume draußen anzustarren.
Frau Gratus ging in unserer ersten Stunde die Schülerliste durch, während alle außer mir und Emma redeten und lachten, als hätten sie gar keinen Unterricht. Doch Frau Gratus ließ sie gewähren; wahrscheinlich wollte sie nicht gleich in ihrer ersten Stunde hart durchgreifen, was ich ihr aber durchaus zutraute.
»Kate Sileo?«
Als sie meinen Namen aufrief, hob ich die Hand und sie sah zu mir. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass sie mich länger ansah als alle anderen, doch das war Unsinn. An mir gab es nichts, was für sie hätte interessant sein können.
Am Ende der Stunde verabschiedete sie sich und teilte uns ein Gedicht aus, das wir als Hausaufgabe lesen sollten. Auf dem Flur erhob sich sofort Getuschel, nachdem Frau Gratus in Richtung des Lehrerzimmers verschwunden war, und ich hörte, wie einige der Jungen sich über unsere neue Lehrerin unterhielten. Was mir dabei zu Ohren kam, hätte mich beinahe würgen lassen, denn es war immer dasselbe: Kaum trat ein gut aussehendes weibliches Wesen in die Nähe der pubertierenden Jungen, wurde gleich heftig diskutiert, wie heiß die Frau doch war und was man am liebsten alles mit ihr anstellen würde.
»Komm«, raunte ich Emma zu. Das musste ich mir wirklich nicht anhören. Wir eilten an den Jungen vorbei.
In den anderen Fächern wurde direkt an das letzte Schuljahr angeknüpft und wir sahen die altbekannten, langweiligen Lehrer wieder. Ich war sehr froh darüber, dassFrau Gratus unsere neue Deutschlehrerin war, denn sie war mir sehr sympathisch.
»Frau Gratus ist nett«, sagte Emma aus heiterem Himmel, als wir nach Schulschluss auf den Bus warteten. Normalerweise fuhr ich mit dem Fahrrad zur Schule, doch das hatte einen Plattfuß.
»Ja«, bestätigte ich. »Sie ist ganz anders als unsere übrigen Lehrer. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, aber auf mich macht sie den Eindruck, als freue sie sich, uns zu unterrichten. Das kann man von anderen Lehrern nicht behaupten.«
Emma nickte, sie wusste genau, auf wen ich anspielte. Unser Geschichtslehrer war ein verrückter alter Kauz, der immer mit sich selbst sprach und uns ständig ermahnte, ihn ja in Ruhe zu lassen, wenn er keine Fragen stellte – und das tat er die meiste Zeit über nicht. Immer mussten wir langweilige Texte lesen oder Gruppenarbeiten machen, aber eine Diskussion kam bei ihm nie zustande. Dafür vergab er sehr gnädig gute mündliche Noten, eine annehmbare Entschädigung für den langweiligsten Unterricht der ganzen Schule.
An einer Bushaltestelle am anderen Ende der Stadt, zwei Straßen entfernt von meinem Zuhause, stieg ich aus. Es graute mir davor, das Haus zu betreten, denn bestimmt lagen meine Eltern wieder ziemlich besoffen auf dem Sofa und schnarchten. Die andere Möglichkeit war, dass sie mir unbegründete Flüche an den Kopf werfen würden und mir sagten, ich solle mich schleunigst verziehen. Welche von beiden mir lieber war, wusste ich nicht so genau, weil mich beide entsetzten.
Wir wohnten in einem sehr abgelegenen, verschmutzten Teil unserer kleinen Stadt, die völlig abgeschieden von anderen Städten in unserem Bundesland war. Die nächste war über zehn Kilometer entfernt, und eine Großstadt wie Berlin oder Hamburg kannte ich nur vom Hörensagen. Man konnte unsere mit unseren knapp zehntausend Einwohnern zwar nicht als Dorf bezeichnen, doch es kam mir immer so vor, als bestünde sie nur aus wenigen Leuten, die ich jeden Tag auf dem Weg zur Schule sah. Ein alter Mann mit Hut und Gehstock begegnete mir täglich an der Ampel, an der ich mit dem Rad vorbeifuhr. An der Bushaltestelle selbst traf ich immer eine adrett gekleidete Dame in Schwarz, die künstlich hüstelte, wenn ich sie passierte. Und an der Schule ging morgens immer um dieselbe Uhrzeit ein älteres Ehepaar vorbei, das immer heftig über Politik oder Philosophie diskutierte.
Ja, ich wohnte in einer sehr langweiligen Stadt, doch bald würde ich von hier verschwinden. Ich hatte bereits eine Zusage für eine Ausbildung zur Journalistin bekommen.In diesem Betrieb hatte ich jahrelang Praktika gemacht, und schließlich hatte mir der Chef persönlich ein Ausbildungsangebot gemacht, das ich angenommen hatte. Mein Arbeitsplatz lag dann gut zwanzig Kilometer entfernt, und ich würde dann auch in die Stadt ziehen, in der das Unternehmen lag und die um einiges besser war als meine jetzige Heimat. Immerhin hatte sie eine große Bibliothek; hier gab es nur eine winzige, von deren interessanten Bücher ich längst alle ausgelesen hatte.
Mit zusammengepressten Lippen schloss ich die Tür unseres Hauses auf und huschte in mein Zimmer. Dabei schlich ich an der offenen Wohnzimmertür vorbei und warf einen Blick hinein. Ich fand meine Eltern schlafend vor. Mein Vater schnarchte entsetzlich laut. Auf dem Tisch standen eine Weinflasche, zwei Bierflaschen und eine Sektflasche. Ich wollte gar nicht wissen, ob diese vier Flaschen voll oder leer waren.
Nachdem ich meinen Schulrucksack in meinem Zimmer abgestellt hatte, ging ich in die Küche und bereitete mir das einzig Essbare zu, das hier zu finden war: Eine Hühnersuppe aus der Packung. Heute Abend musste ich wohl oder übel einkaufen gehen, also nahm ich den Geldbeutel meiner Mutter und steckte ihn in meine Hosentasche. Ihre Geheimzahl für den Bankautomaten kannte ich längst auswendig, so oft hatte ich ihre Karte schon verwendet. Meine Mutter arbeitete zwar noch, aber wenn das mit ihrer Alkoholsucht so weiter ging, würde sie das auch nicht mehr lange tun. Deswegen war es umso wichtiger, dass ich von hier verschwand und mein eigenes Geld verdiente. Schnellstens.
Die Suppe schmeckte grauenhaft, aber das lag mehr daran, dass ich Suppen verabscheute als an dem wässrigen Essen selbst. Nachdem ich den Teller ausgelöffelt hatte, trank ich erst einmal einen großen Schluck Wasser, um den grässlichen Geschmack hinunterzuspülen. Nach dem Essen ging ich zurück in mein Zimmer und setzte ich mich an meinen Schreibtisch. Dort packte das Gedicht von Frau Gratus aus, das wir lesen sollten. Ich hatte mich zuvor nie wirklich mit Lyrik beschäftigt; mein Genre waren die Fantasy- und Abenteuerromane, die so wenig Realität wie möglich beinhalteten, denn vom echten Leben hatte ich mehr als genug. Doch ich war offen für Neues, und so flogen meine Augen über die Zeilen.
Danach standen mir die Tränen in den Augen.
Eine davon tropfte auf das Papier, genau auf die Stelle, an der das letzte Wort »Leben« stand. Völlig fassungslos starrte ich das Gedicht an und konnte nicht glauben, was ich da soeben für berührende Zeilen gelesen hatte. Ich las es noch einmal, und dieses Mal entfuhr mir zusätzlich zu den kullernden Tränen ein Schluchzer. Die pure Magie der Worte hatte mich in ihren Bann gezogen, mit all ihrer Heftigkeit und Wahrheit hatten sie mich getroffen.
Das war mir noch nie zuvor passiert. Doch ich wusste genau, warum es mich so heftig mitgenommen hatte: Weil die Worte genau mich widerspiegelten. Treffender hätte man mich nicht beschreiben können.
Mit zitternden Händen legte ich das Gedicht zurück in meinen noch leeren Deutschordner und ließ ihn geistesabwesend zurück in meinen Rucksack gleiten. Einige Minuten saß ich reglos da, noch immer völlig geschockt. Wie in Trance stand ich auf und ging zum Einkaufen. Meine Gedanken kreisten unablässig um die Zeilen des Gedichtes.

Der Regen prasselte in Strömen auf die Erde nieder, als es am nächsten Tag Zeit war, in die Schule zu gehen. Ich wäre auch bei diesem Regenguss mit dem Fahrrad gefahren, doch mein Drahtesel war immer noch kaputt. So musste ich wieder mit dem Bus zur Schule fahren, denn ich besaß zwar den eigens verdienten Führerschein, doch meine Eltern hatten ihr Auto aus Geldgründen verkauft.
Im Bus musste ich stehen, weil er wie üblich völlig überfüllt war.
»Hey, du dumme Göre!«, schnauzte mich ein übergewichtiger Junge an, als der Bus scharf bremste und ich beinahe auf ihm gelandet wäre. »Pass doch auf, Trampeltier!«
Wie immer ließ ich die Beleidigung an mir abprallen, doch es gelang mir seltsamerweise nicht so gut wie sonst. Ich war es gewohnt, für alles beschuldigt zu werden, was ich nicht getan hatte. Ob es nun wegen des schlechten Wetters oder wegen den schlechten Noten meiner Mitschüler war, irgendwie war immer ich diejenige, an der andere ihren Frust abließen. Wie ich mich dabei fühlte, danach fragte allerdings nie jemand. Warum sollte man auch – Kate Sileo war ja abgehärtet und gefühlslos genug, um das zu ertragen. So dachten wahrscheinlich die meisten meiner Mitschüler über mich. Bei der Beleidigung des dicken Jungen jedoch unterdrückte ich einen Schrei und spreizte die Finger wieder auseinander, die sich zu einer Faust geballt hatten.
Ganz ruhig, Kate, sagte ich mir, um mich zu beruhigen. Dieser Kerl hat es nicht mal verdient, dass du dich über ihn aufregst.
Weil der Bus in einiger Entfernung vor der Schule hielt und ich meinen Regenschirm vergessen hatte, kam ich schließlich tropfnass in der Schule an. Die Doppelstunde Mathe rauschte an mir vorbei, ohne dass ich etwas aufgenommen hatte. Als ich nach dem Klingeln auf meinen Stundenplan sah, las ich, dass ich nach der großen Pause Deutsch an der Reihe war. Sofort war ich hellwach. weil mir einfiel, dass wir heute wohl das Gedicht behandeln würden. Oh nein!
Frau Gratus erwartete uns und bat uns sogleich, das Gedicht herauszunehmen. Ich packte es nur zögernd aus, was Emma nicht entging. Doch sie fragte nicht nach. Aus irgendeinem Grund schien sie zu spüren, dass ich nicht darüber reden wollte.
»Wer von euch hat es denn gelesen?«, fragte unsere Lehrerin mit lauernder Stimme, als ahne sie bereits, dass die Hausaufgabe nicht von allen erledigt worden war. Meine Hand ging zögerlich nach oben, und sie blieb die einzige. Nicht einmal Emma hob die Hand.
»Nun gut«, murmelte Frau Gratus und packte mit leicht enttäuschtem Blick ihr eigenes Exemplar des Gedichts aus. »Wenn nur Kate das Gedicht gelesen hat, dann darf sie es uns jetzt auch vorlesen, damit die anderen mitbekommen, um was es darin geht. Wir werden dieses moderne Gedicht mit einem Liebesgedicht vergleichen, um die Unterschiede herauszuarbeiten. Kate, du darfst beginnen.«
Weil ich sie nur verdutzt anstarrte, wiederholte sie meine Aufgabe noch einmal, und erst dann realisierte ich, dass mich alle gespannt ansahen. So nahm ich also mein Gedicht in die Hände und begann, es vorzulesen, darum bemüht, mir meine damit aufkeimenden Gefühle nicht anmerken zu lassen.

Rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt