Kapitel 4

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Ende April war das schriftliche Abitur vorbei, nur das mündliche stand noch aus.
In der Nacht nach der letzten Prüfung, als ich nicht schlafen konnte, blätterte ich lustlos im Telefonbuch, weil ich nach der Nummer von meiner Tante suchte, die übermorgen Geburtstag hatte und der ich gratulieren wollte.
Gelangweilt ging ich die Sparte mit dem Buchstaben G durch, weil meine Tante mit Nachnamen Gurt hieß. Und dann war ich auf einmal hellwach, als ich an einem anderen Namen hängen blieb, der mir so vertraut war, dass ich ihn im Schlaf hätte rückwärts buchstabieren können.
Gratus, Juliana stand da.
Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie hier in der Stadt wohnte. Doch jetzt, da ich es wusste, fühlte ich mich ihr viel näher als zuvor. Schnell schrieb ich mir ihre Adresse und Telefonnummer heraus. Obwohl ich meine Gefühle für Juliana anfangs hatte verdrängen wollen, hatte ich einsehen müssen, dass es besser war, sie zuzulassen und mir dann immer wieder vor Augen zu führen, dass es keinen Sinn hatte. So kam ich viel besser klar und musste mich auch nicht ständig ermahnen, nicht an sie zu denken, denn es fiel mir schwer, meine Lehrerin aus meinen Gedanken zu verbannen.
Nachdem ich ihren Namen im Telefonbuch gelesen hatte, hatte ich nur noch einen einzigen Wunsch: Zu ihr zu gehen, egal, was mein Verstand dazu sagte. Denn mein Herz sehnte sich so sehr nach ihr, wie es sich noch nie nach etwas gesehnt hatte.
Noch in derselben Nacht durchquerte ich die Stadt und folgte meinem ausgedruckten Stadtplan, wo ich die Straße, in der Juliana wohnte, rot eingezeichnet hatte. Während die Sterne über mir wachten, lief ich mit klopfendem Herzen in Richtung Kronenstraße. Als ich in ebendiese Straße einbog, sog ich die Nachtluft tief in meine Lungen und stieß sie dann langsam wieder aus. Es tat gut, so nah bei Juliana zu sein, auch wenn sie um kurz vor zwei Uhr morgens wahrscheinlich schon schlief. Aber das war mir nur recht, denn so konnte sie mich nicht sehen, wenn ich vor ihrem Haus stand. Ich hatte nicht vor, bei ihr zu klingeln, auch wenn es mich in den Fingern juckte.
Ihr Haus hatte die Nummer vier und leuchtete im nächtlichen Sternenlicht bläulich. Als ich davor stand, überlegte ich, hinter welchem Fenster sie jetzt wohl in ihrem Bett lag und schlief. Leise wünschte ich ihr einen erholsamen Schlaf.
Eine Weile stand ich einfach nur da und dachte über viele Dinge nach, die mit »Warum« begannen und mit Juliana zu tun hatten.
Warum ich sie nicht lieben durfte.
Warum ich sie trotzdem liebte.
Und warum sie mich so bezauberte.
Was mich an ihr zuerst fasziniert hatte, waren nicht ihre Haare, nicht ihre Augen, nicht ihr Mund gewesen. Das alles fand ich erst später toll an ihr. Nein, was mich an ihr als Erstes gefesselt hatte, war ihre Art, mit Menschen umzugehen.
Noch nie war mir jemand begegnet, der so gutmütig, so offen, so herzlich und unendlich freundlich zu anderen war. Immer, wenn ich sie in der Schule außerhalb des Unterrichts sah, zeigte sie, wie lebensfroh sie war. Ob sie nun einem Fünftklässler dabei half, den verlorenen Schlüsselbund zu suchen, oder einen anderen Lehrer beim Tragen von Materialien unterstützte – sie war immer da, wenn jemand ihre Hilfe brauchte, und war mit vollem Herzen dabei. Das sah man an ihrem Lächeln, das immer ihre Lippen umspielte. Und wenn Juliana mich damit ansah, dann berührte sie mich ganz tief in meinem Herzen, von wo aus sich eine wohlige Wärme in meinem Körper ausbreitete. Ich konnte dann gar nicht anders, als zurück zu lächeln. Und dieser flüchtige Augenblick, wenn wir uns in die Augen sahen und mich ihr Blick gefangen hielt, selbst wenn er kürzer als der Flügelschlag eines Schmetterlings war, er war so kurz – und doch kam es mir jedes Mal so vor, als wäre die Zeit stehen geblieben, als befänden sich Juliana und ich jenseits von Raum und Zeit, als gäbe es nur sie und mich.
Wie lange ich auf dem Gehweg stand und nur grübelnd die Hauswände anstarrte, wusste ich nicht, aber irgendwann wurden meine Beine müde. Ich gähnte, beschloss aber, noch nicht zu gehen. Es war einfach schön zu wissen, dass meine Geliebte nur wenige Meter von mir entfernt war, auch wenn sie schlief und nichts davon mitbekam.
So ließ ich mich auf den Asphalt sinken und reckte meinen Kopf zum Himmel. Früher hatte ich mir einmal eine Sternkarte gekauft und die Sternbilder so genau studiert, bis ich sie auswendig kannte. In dieser Nacht erkannte ich fast alle Bilder und hätte sie gerne noch länger betrachtet, doch ich spürte, wie die Müdigkeit mich übermannte. Mit schweren Gliedern erhob ich mich vom Boden und schlurfte im Schneckentempo nach Hause, wo ich eine geschlagene Stunde später ins Bett fiel und sofort einschlief.

Die Zeit raste, nachdem ich mein schriftliches Abitur hinter mir hatte. Ich traf mich des Öfteren mit Emma und wir sprachen rückblickend über die Schulzeit. Was uns am besten gefallen und was wir gehasst hatten, welches Mensaessen wir geliebt und welches wir nicht gemocht hatten, und wie wir uns mit den Jahren verändert hatten. Von meiner Liebe zu Juliana erzählte ich natürlich nichts. Ich war noch nicht bereit, mit Emma darüber zu reden.
Vor dem Abschlussball unserer Jahrgangsstufe stand noch eine kleine Feier an, die einige meiner Mitschüler in der Schule organisiert hatten. Es waren alle eingeladen, die kommen wollten – Eltern, Geschwister, Großeltern, Verwandte, Partner, Lehrer und Schüler. Eigentlich mochte ich keine Feiern und wollte mich an diesem Abend drücken. Doch um kurz vor sieben stand Emma vor meiner Haustür. Sie trug ein zartrosafarbenes Kleid und Kontaktlinsen, und beinahe hätte ich geglaubt, sie sei einem Märchenbuch entsprungen. Eine gute Fee oder so was in der Art. So schön hatte ich sie noch nie gesehen.
Sie fragte mich, ob ich sie auf die Schulfeier begleiten wollte. Meiner besten Freundin konnte ich diesen Wunsch unmöglich abschlagen, und so kramte ich in meinem Kleiderschrank und fand schließlich das mintgrüne Kleid, das ich zum achtzehnten Geburtstag von ihr geschenkt bekommen hatte. Emma lächelte, als sie es sah. Dann trug sie mir ein wenig Wimperntusche und ein wenig Puder auf. Meine Haare ließ sie offen herunterhängen, nur an den Seiten steckte Emma jeweils eine dicke Strähne nach hinten.
Das Ergebnis war wirklich nicht schlecht und konnte sich sehen lassen. Aus der grauen Maus Kate war jetzt eine hübsche Nymphe geworden – so, fand ich zumindest, sah ich aus. Und es gefiel mir gut.
Um fünf vor acht kamen Emma und ich in der Schule an, und sogleich wurden wir neugierig beäugt, als hätte man uns noch nie gesehen. Sogar Max, Emmas Schwarm, warf uns einen kurzen Blick zu, der Emma sofort puterrot anlaufen ließ. Schnell zerrte sie mich weiter in die Aula, wo laute Musik lief und schon einige Paare tanzten. Sofort musste ich an Juliana denken und wünschte, ich wäre irgendwo anders.
In unserem Schulinnenhof war eine Minibar aufgestellt worden, und sofort gesellte ich mich dorthin, Emma im Schlepptau. Ich wollte nicht tanzen. Emma und ich setzten uns auf zwei der Barhocker und beobachteten die tanzenden Paare. Als ich erkannte, dass Kevin und Colin miteinander tanzten, konnte ich mir ein leises Lachen nicht verkneifen. Es sah ziemlich unbeholfen aus, doch die beiden Jungen sahen glücklich dabei aus. Ich hatte gar nicht gewusst, dass sie schwul waren.
Das erinnerte mich unwillkürlich wieder an meine Liebe zu Juliana. Bisher hatte ich sie noch nicht gesehen, aber ich war mir ganz sicher, dass sie sich diesen Abend nicht entgehen lassen würde.
»Hey, Süße, willst du mit mir tanzen?«, fragte da plötzlich ein junger Kerl mit schwarzem Wuschelhaar und warf Emma einen Blick zu, der unmissverständlich sein Interesse an meiner besten Freundin zeigte. Zuerst war Emma so geschockt, dass sie kein Wort herausbrachte, doch als ich ihr aufmunternd zunickte, grinste sie den Typen schüchtern an und ließ sich von ihm auf die Tanzfläche führen. Hoffentlich konnte sie Max für heute vergessen und sich amüsieren.
Ich beobachtete die beiden eine Weile. Sie harmonierten wunderbar zusammen. Für Emma wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass sie jemanden finden würde, der sie so nahm, wie sie war.
Eine geschlagene Stunde lang saß ich an der Bar und hing meinen Gedanken nach, während Emma sich mit ihrem Tanzpartner amüsierte. Als es kurz nach neun Uhr war, betraten die Lehrer die Aula. Sofort stach mir eine Lehrerin ins Auge, bei deren Anblick ich dahinzuschmelzen drohte. Sie trug ein rosenrotes Abendkleid und hatte dazu passend kleine Rosenblüten im Haar, das kunstvoll hochgesteckt war. Juliana Gratus war definitiv die schönste Frau in diesem Raum, und wer das leugnete, der litt eindeutig an Geschmacksverirrung.
Meine Lehrerin ließ den Blick durch die Aula schweifen, und sofort drehte ich mich zum Barkeeper um, damit sie mich nicht gleich erkannte. Auf den ersten Blick würde sie das wohl auch nicht können, denn heute sah ich ganz anders aus als sonst.
»Was darf es diesmal sein, Hübsche?«, fragte mich der schick angezogene junge Mann hinter der Bar zum fünften Mal an diesem Abend, und zum fünften Mal bestellte ich ein Wasser und schwieg dann. Sein Blick ruhte auf mir, als ich das Muster der hölzernen Bar betrachtete. Sollte er sich jemand anderen zum Reden suchen. Mir war nicht nach einem Gespräch.
»Hallo, Kate.«
Das Blut schoss mir in die Wangen, als ich ihre Stimme vernahm. Oh nein! Sie hatte mich doch erkannt. Fieberhaft überlegte ich, was ich tun sollte, doch ich verwarf alle Gedanken an irgendwelche Fluchtversuche sofort wieder.
Nach einem tiefen Atemzug hob ich den Kopf, drehte ihn nach rechts und sah direkt in die schokoladenbraunen Augen meiner Deutschlehrerin. Sie war dezent geschminkt und trug leicht rötlichen Lippenstift. Kein Makel war auf ihrem Gesicht erkennbar, und ich senkte den Blick wieder. Im Gegensatz zu ihr war ich eine Kakerlake.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie, als ich nicht antwortete, sondern stattdessen an meinem Wasser nippte.
»Hmm-mhm«, murmelte ich bestätigend. Zu mehr war ich nicht imstande.
»Du bist ja heute sehr gesprächig«, stellte Juliana fest und lachte leise, doch es hörte sich gezwungen an. »Kann ich dir helfen?«
»Geh einfach«, rutschte es mir heraus, und mein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment in Flammen aufgehen, so heiß war er plötzlich. Das hatte ich doch gar nicht sagen wollen! Jetzt hatte ich sie gekränkt. Na toll.
»Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, fragte sie leise nach, und ich spürte die Wärme ihrer Hand auf meiner. Sofort zog ich sie weg, obwohl es sich gut angefühlt hatte. Ich wollte jetzt einfach nichts mit ihr zu tun haben, das musste sie doch akzeptieren! Es tat so weh, sie zu sehen und nicht mit ihr zusammen sein zu können.
»Nehmen Sie die Kleine bitte mit«, mischte sich da der Barkeeper in unser Gespräch ein. »Sie sitzt schon den ganzen Abend hier herum und starrt Löcher in meine Bar. Das ist ja nicht auszuhalten. So etwas Trostloses ist mir selten unter die Augen gekommen.«
Am liebsten hätte ich ihm eine gescheuert. Was ging es diesen Kerl an, was ich machte? Niemand konnte mir vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen hatte. Ich war volljährig und konnte selbst über mich bestimmen.
Bevor ich zu einer verärgerten Erwiderung ansetzen konnte, hatte mich Juliana auch schon auf die Beine gezogen. Sie nahm mich mit auf die Tanzfläche. Ich protestierte lautstark, doch das schien sie nicht im Geringsten zu interessieren. Sie platzierte mich wie eine Puppe vor sich hin, dann begann sie zu tanzen. Weil sie ihren Griff partout nicht lockern wollte, war ich gezwungen, mich ihren Bewegungen anzupassen.
In meinem Inneren brodelte es. Die Gefühle drohten mich zu überwältigen und wollten heraus. Ich wollte schreien und um mich schlagen vor Wut und Verzweiflung, doch ich hielt mich zurück. Das würde mir die größte Blamage meines Lebens bescheren. Statt eines Gefühlsausbruchs tanzte ich also weiterhin mit Juliana, die über die Fläche zu schweben schien. Ihre Bewegungen waren so flüssig und gekonnt, dass man meinen konnte, sie hätte nie etwas anderes getan. Und wieder zog sie mich in ihren Bann, wie immer, wenn sie mir so nahe war. Die Wärme ihrer Haut, ihr freundlicher Blick und ihr Lächeln beruhigten mich schließlich so weit, dass ich meine feindselige Haltung aufgab und noch näher an sie heranrückte, damit wir schneller tanzen konnten. Wir flogen durch den Raum, mal vollführte ich eine Drehung, mal sie. Einmal pressten wir uns eng aneinander, weil wir sonst mit einem anderen Pärchen zusammengeprallt wären. Und in diesem Moment, als ich mich an sie drückte, konnte ich plötzlich nicht mehr atmen. Ich schnappte nach Luft, doch sie wollte nicht in meine Lungen gelangen. Kurz wurde mir schwarz vor Augen, dann gaben meine Beine unter mir nach und ich drohte zu Boden zu stürzen.
Rettende Hände umklammerten mich und bewahrten mich vor dem Sturz. Juliana hatte gut reagiert und mich rechtzeitig aufgefangen. Jetzt lag ich hilflos in ihren Armen und starrte sie einfach nur an.
»Hoppla!«, rief sie lachend und senkte ihren Kopf zu mir herab. »Na, das war ja knapp. Meine kleine Nymphe wäre beinahe zu Boden gefallen.«
Nymphe? Hatte sie gerade Nymphe gesagt? Ich fand selbst, dass ich so aussah, und war umso erstaunter, dass noch jemand diesen Eindruck von mir hatte. Es kam mir so vor, als hätte Juliana dieselben Gedanken wie ich. Als wären wir komplett auf einer Wellenlänge.
Als sie mich wieder auf die Beine zog, standen wir ein paar Augenblicke lang einfach nur da, während das Lied verklang. Ich sah ihr in die Augen und sie mir, als gäbe es nichts anderes auf dieser Welt als die Augen des anderen.
Und dann küsste ich sie.

Rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt