Kapitel 5

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Erschrockene und entsetzte Rufe drangen an mein Ohr, doch ich nahm gar nicht war, was die Leute riefen. In diesem Moment spürte ich nur die weichen Lippen von Juliana und den leckeren Geschmack ihres Lippenstifts. Erdbeere. Meine Lieblingsfrucht.
Im nächsten Augenblick war der Zauber auch schon wieder verflogen, weil Juliana sich von mir gelöst hatte. Ich tat einen Schritt zurück, ziemlich geschockt über meine Tat. Das durfte doch nicht wahr sein! Jetzt war ich völlig übergeschnappt. Wie hatte ich es zulassen können, meine Lehrerin zu küssen – und das auch noch in aller Öffentlichkeit? Was hatte ich getan? Tränen der Scham brannten mir in den Augen, doch ich konnte den Blick nicht von Juliana abwenden.
Die Leute um uns herum starrten uns einfach nur völlig perplex an. Juliana blinzelte hektisch und keuchte leise, als sei sie völlig von der Rolle. Sie sah mich nur für den Bruchteil einer Sekunde an, drehte sich dann um und verschwand rennend aus meinem Blickfeld. Ich blieb verdattert stehen und sah zu Boden. Wo war nur das berühmte Loch im Erdboden, in dem man verschwinden konnte? Ach, Mist, der Boden hier war aus Beton. Dann eben ein Betonloch, irgendetwas, in dem ich versinken konnte, um den Blicken der anderen Leute zu entfliehen.
»Die spinnt doch!«, hörte ich da einen Jungen in meiner Nähe rufen, und ich zwang mich, nicht den Kopf zu drehen und dem Kerl eine zu scheuern. »Kate Sileo, das Gespött der Schule!« sah ich die Schlagzeile der Schülerzeitung schon vor meinem inneren Auge aufblitzen und wäre am liebsten gegen eine Wand gerannt.
Mit erhitztem Körper und Schweißperlen auf der Stirn stürmte ich aus der Aula hinaus auf den Schulhof, wo ich mich auf einen der großen Steine unter der Eiche in der Mitte des Schulhofes niedersinken ließ. Dann atmete ich ein paar Mal tief ein und aus, um wieder einen klaren Verstand zu bekommen.
Ich konnte einfach nicht fassen, was ich gerade getan hatte. Ich hatte Juliana geküsst. Und das vor allen Leuten. Jetzt konnte ich mich nie wieder hier in der Schule blicken lassen, und zudem wusste nun jeder über meine Gefühlswelt Bescheid.
Völlig verzweifelt krallte ich mir meine Finger in die Wangen, bis es so sehr schmerzte, dass ich alles andere vergaß. Diese Methode wirkte allerdings nur wenige Augenblicke. Ich spürte etwas Klebriges an meinen Fingerspitzen und ließ meine Arme sinken. Schon kehrten meine Gedanken zu dem Kuss zurück, und ich konnte nicht anders, als ihn wieder und wieder vor mein inneres Auge zu rufen, denn bei dem Bild wurde mir ganz warm.
Als ich Stimmen hörte, hob ich den Kopf – und wäre am liebsten erneut weggerannt, denn ich sah, wie Juliana und mein ehemaliger Lateinlehrer lachend aus dem Schulhaus heraus ins Freie traten. Mein Herz drohte zu zerspringen, als ich sah, wie vertraut die beiden miteinander waren. Sie waren zu weit entfernt, als dass ich hätte hören können, was sie sagten, doch es genügte mir, die beiden zu sehen. Meine Hände ballten sich automatisch zu Fäusten, und ich biss mir energisch auf die Unterlippe. Juliana hatte doch nicht ernsthaft vor, mit diesem Typen etwas anzufangen?! Der war hässlicher als die grässlichste Fratze in einer Geisterbahn! Da sah ja mein ehemaliger Mathelehrer, Herr Braun, noch besser aus, und der war über vierzig.
»Dann doch lieber Herr Braun!«, schrie ich Juliana zu, und sie und ihr Begleiter drehten sich erschrocken in meine Richtung um. Als ob Juliana nicht absichtlich nach hier draußen gekommen wäre, um mir zu zeigen, dass sie kein Interesse an mir hatte!
Es war mir herzlich egal, was mein Lateinlehrer über mich denken mochte, ich hatte ja keinen Unterricht mehr bei ihm. Rasend vor Wut stürzte ich an den beiden vorbei in Richtung des Parkplatzes. Ich wollte nur noch weg.
»Kate?«, hörte ich Emmas Stimme rufen, als ich mich zitternd an eines der Autos drückte. Meine beste Freundin kam mit ihrem Tanzpartner zu mir geeilt. »Du blutest ja!«, rief sie entsetzt nach einem Blick in mein Gesicht.
»Lass uns gehen, bitte!«, flehte ich sie ohne eine Erklärung für das Blut an. In meinem Magen rumorte es laut, und mir wurde zunehmend übler. Das war alles einfach zu viel für mich.
Emma verabschiedete sich von ihrem Partner, indem sie ihm ihre Handynummer gab. Dann fuhr mich ohne lästige Fragen nach Hause, wo ich mich heulend auf mein Bett warf und die ganze Nacht kein Auge zutat, was vor allem daran lag, dass ich mich immer wieder übergeben musste.

Rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt