Kapitel 2

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»Kate? Kate! Wach auf!«
Mein Kopf fühlte sich an, als hätte man rundum mit Hämmern darauf eingeschlagen, und als ich meine Augen aufschlug, konnte ich zunächst nur verschwommene Umrisse erkennen, bevor sich nach und nach alles scharf umrandete.
Ich war in Constanzes Haus und lag auf dem Sofa in dem kleinen Eingangsraum, den man durch die Vordertür betrat. Vor mir standen drei Menschen: Ein Arzt, Constanze selbst und –
Nein, das konnte nicht sein. Bestimmt träumte ich nur. Das war nicht möglich.
Doch auch als ich mich gezwickt hatte, um aufzuwachen, blieb die Gestalt dort stehen, wo sie war. Es war Frau Gratus.
»Was ... machen Sie ... denn ...?«, hustete ich und musste aufhören zu sprechen, denn meine Stimme versagte. Mein Kopf brummte ziemlich stark, doch ich versuchte den Schmerz auszublenden.
»Sprechen Sie nicht und bleiben Sie ganz ruhig«, ermahnte mich der Arzt mit rauer Stimme. »Sie haben echtes Glück gehabt, Mädchen. Eine Vergiftung haben Sie sich nicht zugezogen, aber ich empfehle Ihnen trotzdem einige Tage Bettruhe daheim. Nur zur Sicherheit.«
Warum musste ich im Bett bleiben? Ich wollte nicht zu Hause sein, von mir aus im Krankenhaus, aber nicht zu Hause. Bitte nicht ...
Doch ich konnte gegen den Befehl des Arztes nichts ausrichten. So fuhr mich Constanze nach Hause und ich hütete einige Tage lang das Bett. Meine Eltern waren vom Arzt über meinen Zustand informiert worden, doch sie fragten nicht einmal nach, wie es mir ging.
Constanze rief bereits am zweiten Tag an und erkundigte sich nach meinem Befinden. Als sie hörte, dass es mir gut ging, brach sie in Tränen aus und schluchzte nur noch ins Telefon, wollte aber nicht aufhören, sich bei mir für die Rettung ihrer geliebten Pferde zu bedanken. Ich winkte nur ab und legte schließlich auf, damit sie sich beruhigen konnte.
Am fünften Tag, als ich alleine zu Hause war, klingelte es am Nachmittag an der Haustür. Überrascht legte ich mein Buch zur Seite. Wer konnte das nur sein? Meine Eltern sicher nicht, die waren von zwei Bekannten auf einen Kaffee eingeladen worden und erst vor einer Stunde gegangen. So stand ich schwerfällig auf und tapste in meiner kurzen Jogginghose und meinem T-Shirt mit dem Pferdekopf darauf zur Haustür. Als ich sie öffnete, wäre ich am liebsten im Boden versunken.
»Hallo. Darf ich reinkommen?«, grüßte Frau Gratus und lächelte mir freundlich zu. Doch ich stand einfach nur völlig verdutzt da. Sie sah mich bittend an und legte den Kopf schräg. Ihr Räuspern riss mich dann aus meiner Erstarrung. Ich stammelte irgendetwas Unverständliches vor mich hin und ließ sie eintreten. Mit zitternden Beinen führte ich sie in mein Zimmer, wo ich sie bat, sich doch auf meinem kleinen Sofa niederzulassen. Nachdem sie sich interessiert umgesehen hatte (besonders lange war ihr Blick auf dem Bücherregal über meinem Bett verweilt), sah sie mich direkt an und ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen rauschte. Es war mir sehr peinlich, dass sie hier bei mir saß. Warum konnte ich mir aber nicht erklären. Vielleicht wegen meines Gefühlsausbruchs neulich in der Schule. Und weil ich danach so schnell geflüchtet war.
»Ich bin hier, um mich bei dir persönlich zu bedanken«, setzte sie an, doch ich zog nur die Augenbrauen hoch. Für was wollte sie sich bedanken?
Sie musste bemerkt haben, dass ich nicht wusste, wovon sie sprach. »Achso, entschuldige. Du weißt sicher nicht, was ich meine. Es geht um den Brand auf dem Hof von Frau Heinrich. Du hast meine Stute im letzten Moment gerettet, und dafür bin ich dir unendlich dankbar.«
Jetzt fiel bei mir der Groschen. Das Pferd, das ich zuletzt gerettet hatte, war ihres gewesen! Also war sie die Frau, die seit Neuestem bei Constanze ritt. Ach du je ...
»Ähm ... kein Problem. War doch selbstverständlich.«
»Nein, das war es nicht«, widersprach mir Frau Gratus in ernstem Tonfall. »Du hast etwas gut bei mir, Kate. Nun, ich habe mir auch schon überlegt, wie ich mich einigermaßen revanchieren kann. Das wird zwar nie als Dank ausreichen, weil du dein Leben für Rubra aufs Spiel gesetzt hast, aber vielleicht ist es ein Anfang.«
Sie packte ein Foto aus der kleinen Handtasche aus, die sie mit sich führte, und reichte es mir. Zu meiner Verwunderung war auf dem Foto Cassy zu sehen.
»Das ist meine Pflegestute«, murmelte ich und sah Frau Gratus etwas irritiert an. Wollte sie mir etwa ein Foto schenken? Der Zusammenhang wollte mir nicht so ganz klar werden.
»Genau. Cassandra heißt sie, nicht wahr? Eine wirklich sehr hübsche Stute. Ich möchte sie dir schenken.«
Beinahe wäre ich vom Bettrand gekippt. Das war doch nicht ihr Ernst! Sie wollte mir ein Pferd schenken?!
»Das kann ich nicht annehmen«, erklärte ich kurzerhand und gab ihr das Foto zurück. Sie lachte, als hätte sie mit dieser Reaktion gerechnet. Dabei bildeten sich kleine Lachfältchen in ihrem Gesicht, die mich irgendwie faszinierten. Jedenfalls konnte ich den Blick nicht abwenden und starrte sie ziemlich eindringlich an.
Kate!, ermahnte ich mich innerlich. Warum nur fand ich diese Frau so interessant? Ich hatte mich in letzter Zeit öfters dabei ertappt, wie ich im Unterricht mit meinem Blick die Form ihrer Locken nachfuhr oder ihre Gesichtszüge studierte, wenn sie sprach. Aus welchem Grund ich das tat, wusste ich selbst nicht, aber ich konnte mich der Faszination dieser Frau einfach nicht entziehen.
»Ich habe dich aber nicht gefragt, ob du das Geschenk annehmen möchtest«, sagte sie und riss mich so aus meiner Erstarrung. Ihr Blick war so unglaublich weich und gütig, dass er mir ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. »Ich schenke dir die Stute, und von nun an gehört sie dir. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Ich habe Constanze gefragt, ob sie mir Cassandra verkauft, und natürlich habe ich ihr von meinem Vorhaben erzählt. Sie war ganz begeistert und hat mir einen sehr guten Preis für das Tier gemacht. Die Stute gehört von nun an dir, und die Reitstunden sind für dich ab sofort auch umsonst. Das ist Constanzes Geschenk und ich soll es dir von ihr ausrichten.«
Eine Träne floss über meine Wange, ich konnte und wollte sie gar nicht zurückhalten. Ich war einfach so gerührt von den beiden Geschenken, dass ich heftig schluchzen musste, was weitere Tränen fließen ließ. Frau Gratus lächelte und stand dann auf.
»Bleiben Sie doch«, hauchte ich zu meiner eigenen Verwunderung. Warum war mein Mund schneller als mein Gehirn? Eigentlich wollte ich doch alleine sein! Aber das Alleinsein brachte dann auch wieder die trüben Gedanken mit sich.
Verlegen wandte ich den Blick ab.
»Ich würde ja liebend gerne bleiben, aber ich habe noch Nachmittagsunterricht. Wir sehen uns morgen, Kate.«
Mit diesen Worten verließ sie mein Zimmer, und ich vergaß ganz, mich zu bedanken, weil ich ihr hinterherstarrte. Erst, als ich die Haustür unten ins Schloss fallen hörte, war ich wieder fähig, mich zu bewegen und einen klaren Gedanken zu fassen.
Meine Deutschlehrerin hatte mir soeben ein Pferd geschenkt. Und ich hatte mich nicht einmal bedankt.
War ich denn von allen guten Geistern verlassen?!

Rot wie die LiebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt