Meine Erinnerung reicht nur zurück bis an den Beginn meines vierten Lebensjahres. Vielleicht ist das auch gut so, wenn ich daran denke, wie kleine Kinder normalerweise behandelt werden. Jeder will sie knuddeln und redet ganz komisch mit ihnen. Naja, jedenfalls ist mir alles, was davor geschah, nur aus Erzählungen bekannt. Ich erblickte das Licht der Welt an einem wolkenverhangenen Sonntagnachmittag im April. Meine Geburt lief ohne Probleme ab; ich wurde sogar am berechneten Termin geboren. Um diesem Spießertum noch die Krone aufzusetzen, nannten mich meine Eltern Jack. Ein Allerweltsname, jeder kennt jemanden, der Jack heißt. In meiner Volksschulklasse waren gleich zwei andere Jacks, mich exkludiert. Aber zurück zum Tag meiner Geburt. Ich kam also auf die Welt, schrie ein bisschen, während meine Lungen zum ersten Mal in Benutzung waren, mein Vater durchtrennte die Nabelschnur, der Arzt kontrollierte, ob alles in Ordnung war, ich wurde gewaschen und in eine Decke gewickelt und schließlich in die Arme meiner Mutter übergeben. Am dritten Tag durften wir bereits nach Hause. Eine langweilige Geburt für einen langweiligen Jungen. Meine Eltern sagen immer, ich war so ein ruhiges Baby, sie hatten manchmal Angst, ich sei mitten in der Nacht dem Kindstod erlegen. Aber ich hatte einfach nur einen gesunden Schlaf. Und das auch tagsüber. Wenn unsere Verwandten in der Stadt waren (die meisten von ihnen leben ziemlich weit weg), verschlief ich meistens ihren Besuch und wachte nur für die Fütterungszeiten auf. Meine Mutter, eine Zahnärztin von Welt, hielt nicht viel von Muttermilch, deshalb bekam ich von Anfang an ein Fläschchen. Vermutlich bin ich wegen den ganzen Weichmachern so geschädigt. Mein Vater, ein einfacher Büroangestellter, fand das allerdings weniger toll. So konnte er sich nicht so leicht aus der Affäre ziehen und die leidige Pflicht, mich am Leben zu erhalten, nicht einfach meiner Mutter übertragen. Auch Windeln wechseln war ihm ein Graus. Generell wollte er nicht so viel mit mir zu tun haben, wie die knappen zehn Fotos von uns gemeinsam sehr anschaulich illustrieren. Meine Großmutter dagegen verehrte mich beinahe. Ich war nicht ihr erster Enkel, aber die anderen hatten sie bis jetzt enttäuscht. Wobei man ihr da wirklich keinen Vorwurf machen kann. Meine vier Cousins und drei Cousinen waren nicht gerade helle. Die hat man dreimal in die Luft geworfen, aber nur zweimal gefangen, wenn ihr versteht, was ich meine. Natürlich ließ mich meine Großmutter nie mit ihnen spielen, sie wollte wohl nicht, dass sie mich mit ihrer Dummheit anstecken. Aber da hätte sie sich keine Sorgen machen müssen, ich war viel zu langweilig, um mich mit irgendetwas anzustecken. Es schien, als würden mich Krankheiten absichtlich meiden. Bis zum heutigen Tag hatte ich weder Windpocken noch Mumps, Allergien suchte man bei mir vergeblich und wenn ich einmal einen Schnupfen hatte, bereitete man schon kummervoll meine Beerdigung vor. Einerseits war das natürlich ein Segen. Ich war komplett gesund, und das ist für Eltern so ziemlich das Beste, das ihrem Kind passieren kann. Andererseits war ich damit für die anderen Kinder uninteressant. Die hatten alles Mögliche. Angefangen von Fieber und Durchfall bis hin zu Masern. Immer wieder blieb ein Kind länger als das andere daheim, danach wurde stolz erzählt, man wäre beinahe gestorben, aber wie der Held, der man nun einmal ist, hätte man der Krankheit eins in die Fresse geschlagen und wäre als Sieger aus diesem Duell hervorgegangen. Ich, ausgestattet mit einem überaktiven Immunsystem, das vermutlich Keime schon im Keim (Wortwitz nicht beabsichtigt) erstickte, musste natürlich keine Duelle gegen Krankheiten ausfechten und war somit schon im Kindergarten der Langweiler. Niemand wollte mit mir spielen, und so spielte ich mit mir selbst. Nicht auf die sexuelle Art, sondern im wahrsten Sinne der Worte. Ich wurde mein eigener Spielkamerad, mein eigener bester Freund. Ich redete mit mir selbst. Nicht so, wie man es manchmal abgelenkt auch als Erwachsener noch macht, wenn man sich zum Beispiel noch einmal die Einkaufsliste ins Gedächtnis ruft. Nein, ich hatte ganze Konversationen mit mir selbst. Und um ehrlich zu sein, waren sie geistig anregender als sie je mit meinen Altersgenossen hätten sein können. Trotzdem war es natürlich traurig, dass ich so alleine war und nur mich selbst hatte, aber damals war mir das nicht klar. Ich kam mir vor wie das Genie meiner Generation. Ich habe mich oft gefragt, wieso macht das nicht jeder so? Wieso muss ich mit anderen Leuten reden, wenn ich doch einfach zwei oder mehrere verschiedene Stimmlagen benutzen kann? Ihr seht, ich war schon damals eine extrovertierte Stimmungskanone. Auf Geburtstagspartys von Gleichaltrigen suchte ich mir meistens eine stille Ecke und fing ein Gespräch mit mir an. Alternativ redete ich auch mit einem Haustier, wenn vorhanden. Unnötig zu erwähnen, dass ich nicht auf vielen Partys war. Die Grundschule veränderte vieles in meinem Leben. Zum einen, weil ich lesen lernte und somit nicht mehr mit mir selbst sprechen musste, da ich eine andere Beschäftigung hatte, zum anderen, weil ich auf einem Schulfest eine Angst vor Feuer, wissenschaftlich gesprochen eine Arsonphobie, entwickelte. Wer bis jetzt über meiner langweiligen Kindheit noch nicht eingeschlafen ist, wird jetzt mit einer semiinteressanten Geschichte belohnt. Also genießt sie, davon kommen nicht viele vor. Es war ein Schulfest wie jedes andere auch. Es gab eine Hüpfburg, kinderschminkende Clowns und außerdem ein Büffet von Eltern, für Eltern. Also jeder nahm etwas mit und die eigenen Kinder wurden gezwungen, es zu essen, weil niemand sonst diesen Fraß anrühren würde. Da die Lehrer von den miserablen Kochkünsten der Erziehungsberechtigten wüssten, wurde zusätzlich gegrillt. Die anderen Kinder wollten wie immer nichts mit mir zu tun haben, also stellte ich mich mit meiner Capri Sonne neben den Grill und sah ihnen zu. Hinter mir mühte sich unser Direktor mit der Glut ab, da der zündende Funke auf sich warten ließ. Er kam auf die glorreiche Idee, Brandbeschleuniger zu verwenden. Eins führte zum anderen, und schon standen meine Jacke und meine Haare in Flammen. Alles, was ich sah, war Feuer, ich drehte durch und fing an zu schreien und im Kreis zu rennen. Ich wurde gelöscht und mit einer Halbglatze und einer neu erworbenen Phobie nach Hause geschickt. Und seitdem hasste ich alles, was auch nur im Entferntesten mit Feuer zu tun hatte. Ich drehte schon durch, wenn ich ein Teelicht für meine Mutter anzünden musste. Und wenn ihr jetzt denkt, dass ich nun endlich Anschluss an meinen Mitschülern fand, immerhin hatte ich ein Duell mit Feuer ausgefochten, und das auch noch vor den Augen aller, dann liegt ihr falsch. Ich wurde die ersten Wochen sogar ausgelacht. Sie fanden Feuerfangen wohl nicht so cool wie Brechdurchfall. Nun ja, ich kam also relativ unbeschadet und immer noch freundlos durch die Grundschule. Damals störte es mich gar nicht so sehr, unbeliebt zu sein. Ich hatte meine Bücher, ich hatte mich selbst als Gesellschaft, was wollte ich mehr? Ich war glücklich. Doch dann kam die Pubertät.
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Das Abenteuer des Jack Flanders
AdventureJack Flanders ist 16 Jahre alt, Streber und sterbenslangweilig. Alles an ihm, angefangen von seinem Namen bis hin zu seinem Aussehen, ist stinknormal. Bis sich eines Tages alles verändert. Klingt wie jede andere Geschichte über irgendeinen besondere...