Der Anfang vom Ende

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Zuerst fragte die nett aussehende Dame, wie ich hieß. Jack, antwortete ich. Ich wusste nicht, wieso, aber ich wollte ihr nicht meinen vollen Namen verraten. Sie fuhr los. Wieso ich mit weißer Farbe überzogen sei, fragte sie. Ein Streich, murmelte ich. Mein Gesicht wird wohl sehr lebhaft meine durch Demütigung bedingte Unlust zum Reden eingefangen haben, denn sie fragte nicht nach. Stattdessen wollte sie wissen, wie alt ich denn sei. Skepsis wäre angebracht gewesen, aber ich antwortete ehrlich. 16 Jahre. Ein gutes Alter, meinte sie und ließ diese Aussage im Auto stehen. Ich erkundigte mich nach ihrem Namen. Ruth. Ein schöner Name, meinte ich. Sie lächelte mir über den Rückspiegel hinweg zu. Und zum ersten Mal bemerkte ich, dass sie mich nicht gefragt hatte, wo ich hinwollte. Ich sprach sie darauf an. Oh, sie müsse noch ihren Mann abholen, danach würde sie mich heimfahren, versprochen. Langsam bekam ich ein mulmiges Gefühl. Meine Nackenhaare stellten sich auf, ein Schauer lief mir über den Rücken. Ich würde doch lieber aussteigen, sagte ich kleinlaut. Wieder lächelte sie mir über den Rückspiegel hinweg zu. Oh, das ginge leider nicht, erwiderte sie. Sie könne mich doch nicht einfach so laufen lassen, jetzt, wo sie endlich einen perfekten Kandidaten gefunden hatte. Ich schluckte. Was meinte sie? Ich würde darauf bestehen, auszusteigen. Sie lachte glockenhell, danach hielt sie an. Erleichtert wollte ich die Tür aufmachen, als sie bereits aufgerissen und mir eine Nadel in den Hals gerammt wurde. Danach wurde alles schwarz.

Was, wie mir später klar wurde, das Morphin in mir auslöste, hielt ich damals für einen langen Traum. Auch die Party wirkte so irreal, dass ich sie als bloße Fantasie abstempelte. Ich verbrachte viel Zeit in der Schwärze meines Kopfs, ich schwebte durch den Raum, ich war eins mit dem Kosmos. Kurz, ich war bis zum Haaransatz voll mit Drogen und Schmerzmitteln. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Für mich war alles eine einzige, langgezogene Nacht, aus der es scheinbar kein Erwachen gab. Und es war mir egal. Ich ließ mich treiben von dem Morphin in meinen Adern.

Zum ersten Mal erwachte ich von dröhnenden Kopfschmerzen. Meine Kehle gierte nach Wasser. Ich öffnete die Augen, doch alles war verschwommen. Meine Brille. Ich brauchte meine Brille. Ich wollte danach tasten, doch ich konnte meine Hände nicht bewegen. Panik wollte sich breit machen, doch schon schob sich ein verschwommener Mensch in mein Blickfeld und beruhigte mich. Ich bräuchte mir keine Sorgen machen, ich würde nur träumen. Augenblicklich wurde ich wieder schläfrig. Ja, so ist es gut, sagte die Stimme des verschwommenen Menschen. Schön wieder schlafen. Sie hätten noch viel vor mit mir. Wieder wurde alles schwarz.

Das nächste Mal, als ich aufwachte, konnte ich meine Augen nicht öffnen. Ich hörte nur Stimmen. Drei männliche Stimmen, denen allen ein spezieller, arroganter Ton innewohnte. Experiment 36 schlage sich hervorragend, verkündete die eine Stimme stolz. Kein Abfall der Biowerte in über 24 Stunden, krakeelte die andere. Die dritte Stimme wollte wissen, ob Experiment 36 es denn schaffen würde. Zu beinahe 90 Prozent sei man sich sicher, antwortete die erste Stimme. So weit seien sie noch nie gekommen, fügte die zweite Stimme hinzu. Sollte es tatsächlich gelingen, wäre das ein großer Durchbruch für die Menschheit, sagte die dritte. Seine Herzfrequenz steigt, meinte die erste. Gib ihm noch eine Dosis. Und erneut wurde alles schwarz.

Ein letztes und drittes Mal wachte ich noch aus dem Zustand, den ich als Traum wahrnahm, auf. Wieder waren meine Augen träge, und erneut konnte ich nur zuhören. Diesmal waren es zwei Stimmen, eine Frau und ein Mann. Die Frauenstimme kam mir vage bekannt vor. Später fand ich raus, dass es Ruth war, die ich da reden hörte. Sie sagte jedenfalls gerade, dass sie meine Familie ausfindig machen konnte. Wäre auch nicht schwer gewesen, mit den ganzen Vermisst!-Plakaten überall in der Stadt. Wie konnte ihr nur so ein Fehler unterlaufen, wollte der Mann wissen. Er sprach leise und klang angestrengt, als würde er all seine Kraft brauchen, ihr keine zu scheuern. Sie wäre doch sonst nicht so fahrlässig. Sie entschuldigte sich und erklärte ihm, dass ich alleine mitten in der Nacht auf der Straße gewandert sei und sie einfach annahm, niemand würde sich um mich scheren. Und jetzt haben wir den Salat, murmelte der Mann. Eine Zeit lang blieb es ruhig, dann fragte die Frau etwas. Was sie tun würden, sollte ich sterben. Ob sie es den Eltern sagen sollten. Wie sie vorgehen wollten. Der Mann ließ sich Zeit mit seiner Antwort. Danach meinte er ruhig und bedacht, er würde sich eher Sorgen machen, was sie täten, sollte ich überleben. Denn dann kann nur Gott ihnen noch helfen.

So ging das eine Zeit, doch für mich war es immer noch ein und dieselbe Nacht. Ich wachte nicht noch einmal auf für weitere bizarre Gespräche, ich blieb im bodenlosen Nichts meiner Gedanken. Bis ich eines Morgens doch in die Realität zurückkehrte. Und die ersten Worte, die ich hörte, waren: „Name des Patienten: Jack Flanders, Experiment 36. Todeszeitpunkt: 17.12 Uhr."


Das Abenteuer des Jack FlandersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt