Was danach geschah, oder: Wie ich es schaffte, mein Leben noch mehr zu versauen

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Wie ich nach Hause kam, ich habe keine Ahnung. Ich hatte eine heile Mühe, die Wut in meinem Inneren abkühlen zu lassen. So etwas wie gerade eben durfte mir nicht noch einmal passieren. Ihr fragt euch vielleicht, warum ich es nicht als Halluzination abtat. Warum ich so bereitwillig glaubte, was gerade Unglaubliches passiert ist. Nun, das hatte einen sehr simplen Grund: Ich mochte mich zwar in den Fantasiewelten von Büchern verlieren, aber ich versuchte nie, die Realität zu verleugnen. Denn wenn man anfängt, an kleinen Dingen zu zweifeln, zweifelt man bald am großen Ganzen, und das konnte ich mir bei Gott nicht leisten. Ich musste bei klarem Verstand bleiben. Ich musste meine Kräfte verstecken. Nun, zuhause angekommen wurde ich natürlich empfangen wie ein lang verschollener Sohn. Was ich für sie ja auch war, irgendwie. Ich erfand eine Geschichte über einen kranken Kidnapper, der mich einfach nur bei sich haben wollte für Gesellschaft, und dass ich sein Gesicht nie gesehen hatte. Sie glaubten mir bereitwillig. Ich glaube, sie hätten alles akzeptiert, nur weil sie so glücklich waren, mich wieder bei sich zu wissen. Sturzbäche an Tränen von meiner Großmutter flossen an diesem Abend, man hätte ganze Schwimmbäder damit füllen können. Sie bestand darauf, mich zum Psychologen zu schicken, und ich stimmte zu. Ich musste ja fast. Ich konnte nicht einfach sagen: „Nein, meine zweiwöchige Entführung hatte keinen negativen Einfluss auf meine Psyche und hat mich auch gar nicht beunruhigt!" Das wäre verdächtig gewesen. Am nächsten Tag in der Schule war ich nicht mehr der Außenseiter, dem man einen Streich gespielt hatte, sondern der arme Junge, der entführt wurde. Natürlich gab es massenhaft Gerüchte über das, was mir angetan wurde. Manche sagten, ich wurde vergewaltigt, andere malten sich eine kranke Version eines Kampfs auf Leben und Tod aus, der mich die Hälfte meiner Zehen und ein paar Organe gekostet haben sollte. Wie auch immer, plötzlich war ich interessant. Leute grüßten mich, rissen sich darum, wer mit mir an einem Tisch in der Mittagspause sitzen durfte, und wollten sich sogar außerschulisch treffen. Der alte Jack hätte sich etwas aus seiner neuen Beliebtheit gemacht. Doch den neuen Jack, also mich, widerten diese Leute einfach nur an. Ich meine, vor zwei Wochen war es okay, mich vor der ganzen Schule bloßzustellen, und plötzlich interessierten sie sich für meine Gefühle? Ich wollte nichts mit ihnen zu tun haben. Diesmal war es also meine Entscheidung, wieder ein Außenseiter zu werden. Ich blockte alle Gesprächsversuche ab, war unhöflich und gemein. Irgendwann hörten sie auf, mich zu belästigen. Was auch gut war. Sie machten mich wütend mit ihrem falschen Mitleid, wie sie sich an meinem Leid aufgeilten. Und ich durfte nicht wütend werden. Ich wusste, sobald die Hitze überhandnahm, würde alles verloren sein. Deshalb schlich ich mich jede Nacht hinaus, um zu lernen, das Feuer zu kontrollieren. Ich hasste jede Sekunde, die ich mit meinem schlimmsten Feind verbringen musste, aber ich bemerkte auch ein paar andere Sachen, die mit meinen Kräften einhergingen. Ich war schneller, stärker, ausdauernder als jemals zuvor. Nicht Flash-schnell oder Hulk-stark, aber doch besser als normale Menschen. Meine Wunden verheilten in Sekundenschnelle. Das lag vermutlich daran, dass die innere Hitze, das wortwörtliche Feuer in meinen Adern jedwede Wunde ausbrannte und schloss. Aber ich war nicht unverwundbar. Die Verletzung konnte sich nur schließen, wenn das, was sie verursachte, den Körper bereits verlassen hatte. Fragt mich nicht nach Details, wie ich das rausfand. Es waren sehr viele Selbstversuche involviert. Schlafen musste ich auch nur sehr wenig, außer, ich hatte eine üble Wunde oder hatte mich sonst irgendwie exzessiv verausgabt. Meine Akne wurde weniger, bis sie schließlich ganz verschwand. Meine Großmutter nannte das ein Wunder, ich wusste es besser. Meine Brille wurde auch irgendwann obsolet, doch ich ließ sie gegen ein identisches Modell mit Fensterglas austauschen, um keinen Verdacht zu erregen. Ein Wunder, das sich niemand erklären konnte, war genug. Und so lernte ich langsam, damit umzugehen. Ich hasste es noch immer, aber es wurde einfacher. In der Schule war ich immer noch hervorragend. Da ich weniger schlafen musste, brachte ich sowohl Hausaufgaben als auch das Trainieren meiner Kräfte unter einen Hut. Niemand bemerkte etwas. Der einzige, der mir Sorgen machte, war der Psychologe, zu dem ich gehen musste. Er schien zu merken, dass etwas nicht stimmte, denn er stellte äußerst komische Fragen. Wo ich die Nacht zuvor gewesen sei war sein Liebling. Ich gab ihm jedes Mal die gleiche Antwort. Zuhause, im Bett. Er schien mir nie wirklich zu glauben. An meiner Geschichte über meine Entführung konnte es nicht liegen. Ich hatte sie bis ins kleinste Detail ausgearbeitet und in eine Art Tagebuch geschrieben, das mir offiziell dabei half, mit den traumatischen Erlebnissen umzugehen. Ich hatte aufgepasst, mir nicht selbst zu widersprechen und keine Fehler zu machen. Wieso sollte er also Verdacht geschöpft haben? Der Gedanke war unbegründet und unsinnig, aber dennoch ließ er mich nicht los. Ich passte also noch mehr auf, was ich ihm alles anvertraute, damit er es nicht gegen mich verwenden konnte. Mein Instinkt bewies sich später als richtig, als ich herausfand, dass er für dasselbe Institut arbeitete, das mir das angetan hatte, aber an diesem Punkt in der Geschichte sind wir noch nicht. Gut, also bis auf diese seltsamen psychologischen Sitzungen lief alles wie geschmiert. Jeder glaubte mir. Ich war fein raus. Nichts passierte. Bis eines Abends doch etwas passierte. Ich übte gerade an meinem üblichen Platz, abgelegen von den Hauptstraßen und den beliebten Clubs der Stadt. Normalerweise kam hier nie jemand vorbei. An diesem Abend sogar gleich eine ganze Gruppe. Die Anführerin war ein zierliches Mädchen in einem langen Mantel, sie ging einige Schritte vor der ansonsten nur aus Jungs bestehenden Clique. Ich wollte sie einfach passieren lassen, doch dann fiel mir erst etwas Fundamentales auf: Das Mädchen gehörte nicht zur Gruppe. Die Jungs verfolgten sie. Ich wollte mich nicht einmischen, definitiv nicht. Aber als das Mädchen von einem der Jungs gepackt und zurückgezogen wurde, musste ich. Ich konnte nicht einfach zusehen. Das Feuer in mir wollte benutzt werden. „Hey!", rief ich, während ich auf sie zulief. „Hey, ihr Flachwichser, warum nehmt ihr es nicht mit jemanden in eurer Größe auf?" Alle Köpfe schossen zu mir herum, und dann wurde erst einmal herzlich gelacht. Ich konnte sie verstehen. Ich schlaksiger Halbstarker in einem viel zu großen Kapuzenpullover und Jogginghosen sah wohl nicht sehr einschüchternd aus. Alle außer der Junge, der das Mädchen immer noch gefangen hielt, traten vor und bauten sich vor mir auf. Fünf gegen einen, sechs, wenn man den anderen mitzählte. Trotz diesem ziemlich ungleichem Verhältnis hatte ich keine Angst. Ich war nicht einmal nervös. Nein, ich lächelte sogar. Ich war aufgeregt. Endlich würde sich das Training bezahlt machen. Ein großer, bulliger Junge mit rasiertem Kopf trat vor und spuckte auf den Boden. „Verpiss dich", raunte er. „Oder es wird unschön." Mein Lächeln wurde noch breiter. „Oh ja, unschön wird es auf alle Fälle. Aber nicht für mich." Die ersten Anzeichen von Verunsicherung traten in ihre Gesichter. Mein Selbstbewusstsein verwirrte sie. Für sie muss es ausgesehen haben, als wäre ich verrückt oder lebensmüde oder beides. Ich ballte meine Faust, und nur durch die Kraft meiner Gedanken fing die Jacke des großen, bulligen Junges Feuer. Verzweifelt versuchte er, die Flammen zu löschen, und seine Kumpels versuchten, zu helfen, doch bald brannten ihre Jacken ebenfalls. Schreiend befreiten sie sich davon, doch auch ihre T-Shirts hatte ich bereits im Visier. Wild auf sich selbst einschlagend, rannten sie alle davon. Bis auf den Typen, der immer noch das Mädchen festhielt. In seinem Gesicht stand purer Schock, doch er bewegte sich keinen Millimeter. Mein Lächeln war breit und vermutlich ziemlich angsteinflößend. Ich hob die Hand und beschwor eine kleine Flamme herauf. „Buh", machte ich, und er nahm Reißaus. Die Augen des Mädchens waren weit aufgerissen, und ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, wie ich vermutete. Ich löschte die Flamme in meiner Hand, machte kehrt und ließ sie stehen. „Warte!", rief sie nach einer kurzen Bedenkzeit und ich hörte ihre Schritte auf dem Asphalt, als sie näherkam. „Warte doch!" Ich blieb stehen, doch ich drehte mich nicht um. Ich hatte erst in diesem Moment realisiert, dass es eine dumme Idee war, mein Gesicht zu zeigen. „Was willst du?", fragte ich schroff und ihre Schritte stoppten. „Ich wollte mich bedanken", sagte sie schüchtern. „Diese Typen saßen mir schon den ganzen Heimweg im Nacken, sie hätten vermutlich sonst was mit mir gemacht, wärst du nicht gewesen." Leise, zögerliche Schritte. „Willst du dich nicht umdrehen, damit ich es dir ins Gesicht sagen kann? Du kommst mir so bekannt vor." Ich setzte meine Kapuze auf. „Nein. Geh bitte." Plötzlich stand sie vor mir und ich reagierte nur Sekunden zu spät. Ihr überraschtes Lufteinziehen sagte mir alles, was ich wissen musste. „Jack? Jack Flanders?" Gottverdammte Scheiße, huschte es mir durch den Kopf. „Nein, der bin ich nicht", ließ ich sie wissen und rannte davon. Und damit hatte ich den Salat.

Das Abenteuer des Jack FlandersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt