Den eigenen Todeszeitpunkt, das ist doch etwas, das man gerne beim Aufstehen erfährt. Zumindest war es für mich wie Aufstehen. Meine lange, unendlich lange Nacht war nun vorbei, und alles, was mein Herz begehrte, war ein Kakao und die Bestätigung, dass die Party nie passiert war. Und so öffnete ich die Augen und setzte mich auf. Ich war nicht übermäßig besorgt, weder darüber, dass ich gerade für tot erklärt wurde, noch darüber, dass das Bisschen, das ich erkennen konnte, nicht im Entferntesten so aussah wie mein Zuhause. Während ich noch versuchte, aus den verschwommenen Umrissen etwas zu erkennen, brach schon Chaos aus. Leute schrien, Glas zerbrach, Türen wurden versperrt. Immer noch war ich nicht besorgt. Ich war so ruhig und ausgeruht wie noch nie. Ich streckte mich erst einmal ausgiebig, gähnte etwas, und tastete danach nach meiner Brille. Auf meiner rechten Seite war ein Nachtkästchen, dort wurde ich auch fündig. Ich setzte sie auf, sah mich um- und zum ersten Mal verspürte ich leichte Besorgnis. Ich war in einer Art Krankenzimmer, mein Bett war das einzige hier. Eine spiegelnde Scheibe war an der einen Wand eingelassen, und irgendetwas sagte mir, dass dahinter Menschen waren, die mich genau beobachteten. Ein Tisch war umgeworfen worden, eine kleine Wasserlache bildete sich da, wo ein Glas mit der klaren Flüssigkeit auf dem Boden zersprungen war. Hm, Wasser wäre auch nicht schlecht, schoss es mir durch den Kopf, bevor ich einen kleinen, gedrungenen Mann bemerkte, der mit einem Klemmbrett vor der Brust in der Ecke kauerte. Er sah mich aus großen, angsterfüllten Augen an. Ungefähr Anfang 50, graue, immer weniger werdende Haare, Arztkittel. Irgendwie amüsierte mich die Furcht, die aus jeder einzelner seiner Fasern sprach, und ich grinste. Er quietschte auf, als sei ihm jemand auf den Schwanz getreten, und hob sein Klemmbrett vor sein Gesicht. Ich fand das immer noch zum Schießen. Ich wollte mich gerade aus dem Bett erheben, als eine Stimme über den Lautsprecher verkündete: „Bitte bleib sitzen, Jack." Ich sah die verspiegelte Scheibe an und hob die Brauen, hielt aber in der Bewegung inne. Ich kannte diese Stimme. Es war der Mann, der meinte, wenn ich überleben sollte, könne nur Gott ihnen noch helfen. War das vielleicht doch kein Traum? „Wie fühlst du dich, Jack?" „So ausgeruht wie noch nie", antwortete ich ehrlich. „Woran kannst du dich erinnern?" Ich überlegte. „An... an die Party, auf der ich war... danach ist alles irgendwie verschwommen..." Eine kurze Pause entstand. „Keine Sorge, das ist normal." Ein Moment des Schweigens. „Jack, weißt du, wozu du nun fähig bist?" Ich stutzte. Was zur Hölle war hier los? Der Mann in der Ecke wimmerte leise. „Nein, keine Ahnung, aber der Typ dahinten hat ziemlich Angst. Wollt ihr den nicht einmal auf eure Seite der Scheibe holen? Der bekommt sonst noch einen Herzinfarkt." Eine längere Pause diesmal, die mir Zeit zum Nachdenken gab. Normalerweise redete ich nicht so. Ich redete normalerweise überhaupt nicht mit Erwachsenen, außer, ich musste. Und ich setzte mich auch nicht für andere ein. Habe ich nie, und werde ich nie. Dachte ich zumindest. Die Tür schwang auf, der Mann sprang wie von der Tarantel gestochen auf und flitzte hinaus. Die Tür schloss sich wieder. Ich schlug die Decke zurück und setzte mich an die Bettkante. „Jack, bleib bitte sitzen." Ich verdrehte die Augen, und obwohl der Teil, der früher über mein Handeln bestimmt hat, der Teil, der immer Befehle befolgte, einen Sitzstreik leistete, war der andere, der neue Teil größer. „Ich muss pissen, Mann! Und was muss ich hier tun, um ein Glas Wasser zu bekommen? Oder gleich Frühstück?" Wieder eine Pause. „Jack, weißt du, wie spät es ist?" Die Frage irritierte mich. Bis jetzt hatte ich einfach angenommen, es wäre Morgen. Ich sah mich etwas weiter um und entdeckte ein kleines, vergittertes Fenster. Am Horizont ging gerade blutrot die Sonne unter. Verwundert wendete ich mich wieder der Scheibe zu. „Mannomann, ich hab ja lang gepennt. Gut, dann eben Abendessen." Pause. Ich wurde langsam unruhig. Wieso brauchte er solange? Warum musste er sich immer erst die Antworten zurechtlegen? „Jack, wann war diese Party deiner Meinung nach?" Ich begann, mit meinem Fuß einen nervösen Rhythmus auf den Boden zu klopfen. „Gestern Abend. Kann mir jetzt mal einer sagen, was hier los ist und wo ich überhaupt bin?" Natürlich wieder eine Pause. Aber diesmal konnte ich leise Stimmen wahrnehmen, wenn ich mich konzentrierte. Sie berieten sich, wie viel sie mir anvertrauen sollten. Ich war so darauf fixiert, dass ich sogar leicht zusammenzuckte, als die Stimme wieder aus dem Lautsprecher schallte. „Jack, du bist hier in einer speziellen Forschungseinrichtung. Wir experimentieren mit Molekularbiologie und menschlicher Gentechnik. Und du bist einer unserer Probanden. Du bist nun schon seit zwei Wochen hier, seit dem Abend der Party." Ich spürte richtig, wie mir meine Gesichtszüge entglitten. Zwei Wochen? Zwei verdammte Wochen? War ich die ganze Zeit im Koma? Und... auf einmal sackte die Botschaft des Satzes erst richtig in meine Gedanken. Sie experimentierten. Ich war ein Proband. Meine Hände begannen, zu zittern. „Was habt ihr mit mir gemacht?" Meine Stimme war kontrolliert, doch ich fühlte Wut und mit ihr eine innere Hitze aufsteigen, wie ich sie noch nie erlebt hatte. „Jack, bitte, raste nicht aus. Das könnte für uns alle tödlich enden." Ich sprang auf, obwohl ich in diesem Fall nur als mein Körper als willenlose Marionette zu verstehen war. Mein Verstand ließ mich diese Dinge nicht tun. Es war die Wut, die Hitze in mir. Meine Stimme war nun weit entfernt von kontrolliert. „Was habt ihr mit mir gemacht, ihr Bastarde? Was ist so schrecklich, dass ihr es mir nicht einmal sagen könnt? Dass der eine Typ so Angst vor mir hatte, dass er sich in eine Ecke gekauert hat? Ich will Antworten!" Wieder hörte ich leise Stimmen, die sich berieten. Ich schlug mit der Faust auf das Nachtkästchen. „Sofort!" Die Stimmen verstummten. „Jack, bitte, beruhige dich." Eine andere Stimme, eine weibliche diesmal. Ich kannte sie. Ruth. „Wir alle verstehen, dass es schwer für dich sein muss, aber du musst dich wirklich beruhigen." Ich zitterte mittlerweile am ganzen Körper. Die Hitze baute sich immer weiter auf, drang in jede Ritze meines Verstands vor. Meine Sicht war überzogen von einem blutroten Schleier. „Bitte, Jack. Wir alle wollen, dass es dir gut geht. Setz dich wieder hin und dann reden wir. Du als perfekter Kandidat kannst jetzt nicht alles hinwerfen." Perfekter Kandidat. Diese Worte hatte sie schon einmal benutzt. Bevor sie mich auf Gedeih und Verderb an diese Wissenschaftler aushändigte. Diese zwei Worte waren die Tropfen, die das Fass zum Überlaufen brachten.
Die Ironie an der Sache ist, dass sie mir nicht nur irgendeine Kraft gegeben haben. Nein, es war eine ganz Spezielle. Es war Feuer. Lustig, wo ich doch eine Arsonphobie hatte, nicht? Ich hasste meine Kraft von der ersten Sekunde an. Ich hasste die Leute, die mir das angetan hatten. Sie gaben mir Feuer, um es zu kontrollieren, reicherten meinen Körper aber damit an, bis es mich kontrollierte. Kein Wunder, dass niemand zuvor diese Prozedur überlebte. Was mich so besonders machte, fragt ihr? Ich weiß es nicht. Ich war vielleicht wirklich der perfekte Kandidat, wie Ruth mich nannte.
Als die Hitze in mir langsam abkühlte, konnte ich wieder klar denken. Und zum ersten Mal das Ausmaß meiner Kräfte betrachten. Ich hatte alles in Schutt und Asche gelegt. Verkohlte Überreste zeugten von verbrannten Möbeln, Mauerstücke wechselten sich auf dem Boden mit Glasscherben ab und bildeten ein willkürliches Mosaik. Ich stand nun Auge in Auge mit den Leuten, die mich zuvor durch die Sicherheit einer Scheibe beobachtet haben. Ich stand denjenigen gegenüber, denen ich diese Scheiße zu verdanken hatte. Ernsthaft verletzt war niemand; hier und dort eine Platzwunde von herabregnenden Mauerteilen, aber ansonsten hatten sie nur Angst. Ruth und der Mann, dessen Stimme ich erkannt habe, standen nahe beieinander, vermutlich befand sich dort einmal das Mikrofon. Mit einer Selbstsicherheit, die ich bis zu diesem Moment nie hatte, ging ich auf die beiden zu und funkelte sie wütend an. „Ich werde jetzt nach Hause gehen. Wenn jemand ein Problem damit hat, kann er ja versuchen, mich aufzuhalten. Kommt mir nie wieder unter die Augen, oder es wird euch leid tun." Damit ließ ich sie stehen und lief auf eine große Tür zu, auf der Ausgang stand. Und in diesem Moment zerbrach etwas in meinem Inneren, etwas, das mich ausmachte. In diesem Moment wusste ich, dass der alte Jack Flanders nie mehr zurückkommen würde.
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Das Abenteuer des Jack Flanders
AdventureJack Flanders ist 16 Jahre alt, Streber und sterbenslangweilig. Alles an ihm, angefangen von seinem Namen bis hin zu seinem Aussehen, ist stinknormal. Bis sich eines Tages alles verändert. Klingt wie jede andere Geschichte über irgendeinen besondere...