Es war Sonntag und Mae hatte ihren freien Tag. Sie war früh aufgestanden. Ihre Kollegen in der Universität würden wieder verständislos den Kopf schütteln und sagen: "Wieso stehst du so früh auf, wo doch sowieso nie was los ist." Mae hatte diese Worte immer mit der Begründung abgewehrt, sie
sei Frühaufsteherin und konnte gar nicht lange schlafen. Es war die innere Uhr, die sie weckte. In
Wirklichkeit waren es die Alpträume,
aus denen sie jeden Tag
schweißgebadet aufwachte. Alpträume, die sich ständig
wiederholten. Mae wusste nicht, was
sie zu bedeuten hatten. Sie erzählte niemandem von diesen Träumen. Außer ihrer Mutter. Auch wenn sie schon vor langer Zeit gestorben war, hatte Mae jedes mal das Gefühl, ihre Mutter würde alles hören und manchmal sogar ein Zeichen zur Antwort geben. Mae hatte sonst niemanden, mit dem sie reden konnte. Geschwister hatte Mae auch nicht. Obwohl sie sich schon sehr oft eine Schwester gewünscht hat. Ihr hätte sie alles erzählt. Doch nun war es Mama, der sie alles sagen konnte. Maes Armbanduhr piepste. Es war 8 Uhr. Sie raffte sich aus ihren Tagträumereien auf und packte ihre Tasche. Sie wollte heute raus. Einfach nur raus in die Parks und Wälder Londons. Vielleicht schaffte sie nicht alle, aber ein paar Wäldchen werden schon drin sein. Mae griff ihre Schlüssel und ihren Mantel, schlüpfte in ihre Boots und verließ ihre Wohnung. Draußen war es still. Keine Vögel, keine Autos, keine Fahrradfahrer, die gestresst über die Straßen sausten um pünktlich zur Universität oder zur Arbeit zu erscheinen und auch keine lachenden Kinder. Der Wintertag war wohl zu trüb für jegliche Art von Unternehmungen und außerdem war es ja Sonntag. Mae wollte trotzdem hinaus. Zuerst ging sie in den Hampshire Park. Dieser lag am Ende der Maple Avenue. Mae lief diesen Weg früher immer mit ihrer Mutter entlang. Daran erinnerte sie sich noch sehr gut. In der Avenue gab es viele Sitzbänke. Je eine nach jedem Ahornbaum. Und auf die aller erste hatten sie sich immer gesetzt. Dann sagte ihre Mutter zu ihr, was sie immer sagte wenn sie auf dieser Bank saßen: Mae, eines Tages wirst du diese Avenue hinabgehen und dich auf die zweite Bank setzten. Denn die erste wird nicht mehr da sein. Mae hatte jedes mal gefragt, warum diese Bank nicht mehr da sein würde. Ihre Mutter hatte ihr aber darauf nie geantwortet.Mae lief weiter. Bis sie zu einer Sitzbank kam. Diese war schon morsch und von Moos bewachsen. Sie schaute um sich. Und entdeckte, dass zwischen dem ersten Ahornbaum und den zweiten eine Bank fehlte. Nicht mal das Fundament War dort geblieben. Mae schaute die Avenue hinunter. Zwischen den Bäumen standen noch genau so viele Bänke wie früher. Nur diese eine Bank fehlte. Es war die, auf die sie sich früher immer mit ihrer Mutter setzte. Mae schwelgte in Gedanken. Wie schön es doch war, als ihre Mutter noch lebte. Sie war ein so liebevoller Mensch, der immer lächelte. Auch wenn sie mal traurig war. Das Lächeln, das ihr Gesicht nie zu verlassen schien, hatte Mae am meisten geliebt. Sie erinnerte sich den Tag, an dem sie das Lächeln zum letzten Mal sehen sollte. Es war kalt, nebelig und die Straßen von London waren rutschig. Mae war mit ihrer Mutter auf dem Weg zur Schule. Die Beiden hörten Musik, alberten herum und lachten. Ihre Mutter sagte immer: Meine große Mae! Darauf antwortete Mae damals mit einem: Mama ich bin doch erst 7 Jahre alt! Maes Mutter lächelte und pustete ihrer kleinen Tochter einen Luftkuss zu. Und plötzlich wurde es dunkel um Mae. Und sie spürte tausend Stiche ihrer Brust.
***Als die kleine Mae ihre Augen öffnete wurde es hell. Sehr hell. Sie sah, wie Lichtstreifen über ihren Kopf hinweg, wie in Zeitlupe, sausten. Sie schaute auf ihre Hand. Da waren Schläuche. Sie schaute geradeaus. Sie sah Menschen, die aufgebracht mit den Händen herumwirbelten. Ihre Münder bewegten sich in Zeitlupe, als würden sie schreien. Schreien, um gehört zu werden von denen, die in weißen Kitteln Betten schoben.
In dem Bett vor ihr erkannte sie den gelben Mantel ihrer Mama. Mae wollte sich aufrichten, aber ein Mann hielt sie sanft unten und lächelte etwas. Sie schaute ihn verzweifelt an. Er gab mir zu verstehen, dass alles gut werden würde. Mae spürte einen Ruck und wachte auf. Sie befand sich in einem hellen Raum. Sie sah durch ihre halb geöffneten Augen eine Frau. Ihre Silhouette war verschwommen. Die Frau näherte sich. Mae erkannte das Gesicht ihrer Mama. Sie lächelte. Da war das Lächeln wieder. Mae lächelte ebenfalls. Sie streckte ihre kleine Hand nach dem Gesicht ihrer Mutter aus. Doch das Lächeln verschwand und ihr Gesicht verzog sich und sah schmerzerfüllt aus. Mae erschrak. Sie schrie. Ihre Mutter legte einen Finger auf ihre Lippen und schloss die Augen. Sie verschwand. Mae fing an zu weinen und wollte ihr hinterher gehen. Doch sie konnte nicht.
Eine Krankenschwester packte Mae und brachte sie wieder zurück in ihr Bett. Sie sagte, dass sie sich jetzt ausruhen sollte. Mae schaute die Krankenschwester an und fragte sie, was mit ihrer Mutter los war. Doch sie bekam keine Antwort. Mae löste sich aus dem Griff der Krankenschwester, rannte den Flur entlang, zu einem Mann in langem Kittel und flehte ihn an, sie zu ihrer Mutter zu lassen. Doch der Mann brachte sie ebenfalls zum Schweigen und schickte sie zurück auf das Krankenzimmer.
***
Mae öffnete die Augen. Die Realität hatte sie wieder. Sie strich sich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Ihre eiskalten Finger ließen ihre Wangen erstarren. Sie zog sich ihren Schal vor's Gesicht und steckte ihre Hände in die Manteltaschen. Mae ging die Avenue hinunter. Nach einer Weile erreichte sie das große, aus Eisen gebaute Tor, dass den Eintritt in den Hampshire Park gewährte. Mae schritt fast ehrfürchtig durch das Tor. Es war jedes Mal wie magisch gewesen, wenn sie mit ihrer Mutter durch dieses Tor in den Park ging. "Mae dieser Park ist ein magischer Ort. Er ist voller Geheimnisse", erzählte ihre Mutter. Mae hatte früher immer gehofft, dass es Wirklichkeit war, aber je älter sie wurde, desto weniger glaubte sie daran und in der Schule glaubte ihr diese Geschichten auch keiner. Ihre Mutter hatte es sich wahrscheinlich nur ausgedacht, um die kleine Mae ein bisschen aufzumuntern. Mae seufzte und ging in den Park hinein.
Vor ihr erhoben sich zwei riesige Ahornbäume. Der einbrechende Winter hatte ihnen fast alle Blätter geraubt. Mae lief durch die beiden Bäume hindurch und gelangte ins Herzstück des Parks. Es war ein riesiger See, dessen Oberfläche silbern schimmerte. Er war umrandet von Weiden, deren lange, dünne Äste eine Schutzmauer für ihn zu errichten schienen. Mae schob ein paar Äste eines Weidenbaumes bei Seite. Sie blickte nun direkt auf den See. Die Stimmung war schon fast gespenstisch. Auf dem See hatte sich leichter Nebel gebildet und ein leichter Wind kam auf. Mae trat näher ans Ufer heran. Im nun glitschigen Gras sah sie etwas Rundes. Sie ging noch näher an den See, um zu sehen, was dort am Ufer lag.
Das ist nun mein erstes Kapitel hier auf Wattpad. Ich hoffe, es hat euch gefallen.
itsNinella🍑
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1974 - Wir sind Spiegelkinder
Teen FictionIn dieser Geschichte geht es um die junge Frau Mae Elisabeth Johnson, die als Studentin in London lebt. Ihre Eltern sind gestorben, als sie noch ein sehr junges Mädchen war. Eines Tages findet sie einen Spiegel mit dem sie durch ein magisches Ereign...