6 ~ Diego

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Es war atemberaubend. Auch wenn Angie traurig war, sie sah sich begeistert in ihrem Zimmer um. Ich schluckte schwer als sie ein Notizbuch in die Hand nahm, das rot vor Blut war. Sie betrachtete es nachdenklich, also widmete ich mich den Bildern in dem Zimmer. Auf ein paar Bildern sah ich meine Schwester mit Camila und Violetta. Sie sahen echt glücklich aus. Auf einem Bild waren Violetta und Ludmila zu sehen. Ein Bild zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Ein Bild von Angie. Sie saß auf einer Mauer, strahlte über das ganze Gesicht und im Hintergrund war eine Stadt zusehen.

Da war sie ehrlich glücklich. Aber nun? Ich fand noch ein Bild von Angie, wo sie im Garten neben ihrer Schwester saß und sie glücklich ansah. Die Sonne ließ ihre Haare Gold schimmern. Jedes Bild von Angie war etwas einziges. Ich betrachtete ein Bild von ihr und Violetta mit einem Fohlen. Auf diesem Bild sah man die bedingungslos Liebe zwischen Angie und ihrer Nichte. Als ich mich wieder zu meiner Freundin drehte, lag sie zusammengerollt auf ihrem Bett und schlief. Hierher zu kommen war sehr anstrengend und aufregend für sie gewesen und durch mein Verhalten hatte ich sie auch ein wenig alleine gelassen. Vorsichtig legte ich ihren Kopf auf das Kissen und zog die Bettdecke unter ihr hervor. Behutsam deckte ich sie zu und küsste ihre Stirn. „Ich liebe dich, Angie!", hauchte ich leise, strich ihr noch einmal durch die Haare und ging ans Fenster.

Sie seufzte leise. Ich sah zu ihr und verlor mich in Gedanken. Eine kleine Bewegung von Angie holte mich in die Gegenwart zurück, doch sie schlief friedlich weiter. Seufzend ließ ich meinen Blick durch ihr Zimmer schweifen bis mein Blick an ihrem Notizbuch hängen blieb. Mit zitternden Händen nahm ich es und schlug es auf. Es sollte ihr als Tagebuch dienen... Ich hatte nicht das Recht zu lesen, was darin stand! Trotzdem fing ich an zu lesen.

Alle haben Mitleid mit mir! Ich will das nicht! Warum können mich nicht allein Ruhe lassen! Wegen Pablo habe ich nicht auf Vilu geachtet. Ich hätte wissen müssen das es ihr schlecht geht... Germán... Ja, Germán... Er hat mich vor Francesco gerettet... Ich würde nicht wissen was ich ohne ihn gemacht hätte... Also ohne Germán nicht ohne Francesco... Auf Francesco hätte ich gut und gerne verzichten können. Ich will wieder zu Vilu! Ich will ohne sie nicht leben! Ich kann nicht mehr... Ich will nicht mehr... Erst Maria und jetzt Violetta... Mein Herz zerbricht qualvoll und langsam... Es tut verdammt weh.... Ich will den Schmerz nicht mehr ertragen!!! Oder etwa doch? Man bekämpft Feuer mit Feuer... Also auch Schmerz mit Schmerz?? Ich könnte es ja versuchen...

Ich musste schlucken. Sie hatte also schon einmal eine Begegnung mit Francesco gehabt. Angie hatte sehr viel Schmerz als sie das hier schrieb. Sie hatte das ritzen als einzige Möglichkeit gesehen. Ich wünschte, ich hätte sie davon abhalten können! Tränen liefen über meine Wangen und tropften auf das blutverschmierte Papier, das den nächsten Eintrag sehr unleserlich machte.

Schmerz mit Schmerz zu bekämpfen ist nicht die perfekte Lösung, aber ich habe mich nicht mehr auf das wesentlich konzentriert. Sondern nur auf die Schmerzen, die ich durch die Rasierklingen erlitten habe. Ich fühle mich besser auch wenn ich nun blute wie ein Schlachtschwein. Germán hat mich aber entdeckt und will jetzt einen Krankenwagen rufen... Aber warum? Es sind doch nur ein paar Schnitte, oder etwa nicht? Ich verstehe ihn ni...

Ich atmete schwer auf. Dann legten sich plötzlich zwei Arme um mich und ich wurde an einen anderen Körper gezogen. Ich schlug das Notizbuch zu und küsste die Stirn meiner Freundin, die sich gerade an mich kuschelte. „Ich weiß, das war eine blöde Idee gewesen. Aber...", versuchte sie sich zu rechtfertigen. „Kein Aber! Es war unüberlegt gewesen und es hätte fast dein Leben gekostet, aber durch diesen Unsinn haben wir uns kennengelernt. Außerdem bist du mir keine Rechenschaft schuldig", stellte ich klar und zog sie an mich. „Aber du weinst!", murmelte sie leise. „Ja, ich weiß... Ich konnte den Schmerz nachempfinden, den du damals hattest und ich wünsche mir einfach nur, dass ich das alles hätte verhindern können!"

Sie schmiegte ihren Kopf an meine Brust und schniefte fast lautlos. „Ich liebe dich, mein Engelchen!", sagte ich sanft und küsste ihr Haar. „Ich dich auch, mein Süßer!", antwortete sie mir und schlang ihre Arme fest um mich. „Es tut mir leid, wenn ich eben etwas gesagt habe, das dich verärgert hat. Das wollte ich nicht!", entschuldigte sie sich brav. Sanft strich ich durch ihre blonden Locken. „Ist doch nicht schlimm, Angie. Es tut mir leid, dass ich so reagiert habe. Das war nicht richtig! Ich hätte dir stattdessen von damals erzählen sollen...", murmelte ich und sah ihr in die kristallblauen Augen als sie sich etwas von mir löste. „Das musst du nicht. Ich liebe dich so wie du bist!", meinte sie und streichelte über meine Wange. „Du hast Angst, dass du irgendwelche Vorurteile haben wirst und deshalb aufhörst mich zu lieben, hab ich recht?", fragte ich leise und legte meine Stirn an ihre.

„Vielleicht ein bisschen, aber ich sage es eigentlich, weil ich dich so liebe wie ich dich kennengelernt habe. Wenn du irgendetwas hast, was du mir unbedingt erzählen willst, dann mach es. Ich will nur, dass du weißt, dass ich auch ohne dieses Wissen leben kann." Zärtlich küsste sie mich und schlang ihre Arme um meinen Hals. Ich legte das Notizbuch weg und drückte sie an mich. Für eine kurze Zeit gab ich mich ihr hin, dann löste ich mich von ihr. „Ich will das du alles über mich weißt!", sagte ich bestimmt und sah sie ernst an. Ich sah Angst in ihrem Blick aufblitzen. Liebevoll schlang ich meine Arm um ihre Taille und zog sie zu ihrem Bett. Wir ließen uns beide darauf fallen. Sie schmiegte sich an mich.

„Dann erzähl! Ich werde dir zuhören", meinte sie leise. Ich dachte nach wo ich am besten anfing. „Seit ich neun Jahre alt war, nahm meine Mutter Drogen und trank unentwegt. Ich kannte nichts anderes. Mit vierzehn schmiss ich die Schule, nachdem meine Noten immer schlechter wurden. Ich dachte, ich wäre zu blöd für die Schule, dabei hatte ich nie die Zeit zum Lernen gehabt, weil ich mich um meine Mutter gekümmert habe. Irgendwann brachte sie immer wieder neue Männer mit nach Hause. Sie nahmen meine Mutter aus wie eine Weihnachtsgans und als dann kein Geld mehr für uns zum Leben übrig blieb, fing ich an zu stehlen. Ein paar Mal ging alles gut, doch dann wurde ich erwischt und wäre beinahe im Heim gelandet. Ich wurde wieder auf eine Schule geschickt, die ich geschwänzt hatte, bis ich rausflog. Ab dem Punkt ging es vollkommen bergab. Durch meine Mutter kam ich mit fünfzehn schon an Drogen und Alkohol. Da ich dem nicht viel abgewinnen konnte, suchte ich mir eine andere Beschäftigung. Mit sechzehn Jahren war ich in ganz Spanien schon unten durch, denn ich war nicht gerade sehr viel besser als Francesco, eher schlimmer...", erzählte ich und merkte wie meine Freundin neben mir erschrocken zusammenzuckte.

Ich zog sie sanft an mich. „Dann starb meine Mutter. Von dort an kam ich von einer Pflegefamilie in die nächste. Bei der ersten habe ich das komplette Geld geklaut, bei der zweiten bin ich auf den Sohn losgegangen und hatte ihn fast totgeschlagen, bei der dritten habe ich mich an deren Tochter vergriffen und so ging es immer weiter bis ich hier gelandet bin. An dem Tag, wo ich dich traf, da hatte ich gerade einen Streit mit meinen neuen Pflegeeltern gehabt, weil sie davon ausgegangen waren, dass ich mit irgendwelchen Verbrechen in der Gegend zu tun gehabt hätte. Ich hatte da schon vor mich zu ändern. Francesca war die einzige zu dem Zeitpunkt gewesen, die mich darin unterstützt hatte. Sie hatte mich im Studio angemeldet und begeisterte mich für die Musik. Aber du... Du hast mir den letzten Ruck gegeben mich wirklich zu ändern und dafür werde ich dir immer dankbar sein!", murmelte ich und vergrub mein Gesicht in ihren Haaren.

Sie schwieg. Dann raffte sie sich auf und kletterte über mich. „Was erwartest du jetzt von mir?", fragte sie mich ernst. Behutsam strich ich ihr ihre Haare auf eine Seite. „Ich erwarte gar nichts. Vielleicht hast du jetzt Angst vor mir, weil ich ein mieser Vergewaltiger bin oder du pfeifst auf die Dinge, die ich dir gerade erzählt habe und küsst mich einfach!", seufzte ich und plötzlich ließ sie sich auf meine Brust fallen. Sie küsste mich leidenschaftlich. Überrascht erwiderte ich ihren Kuss und zog sie mehr auf mich. Sanft löste sie sich von mir. „Bleib bitte im Studio und studiere zu Ende! Ich werde etwas anderes finden, aber du hast eine wunderbare Chance bekommen und ich will, dass du diese nutzt. Bitte, Diego!", sagte sie dann seufzend. Ihr Kopf sank auf meinen Brustkorb und sie kuschelte sich näher an mich. Zärtlich spielte ich mit ihren seidigen Locken. „Wenn du meinst, meine Angie... Schlaf jetzt aber etwas. Du bist doch hundemüde!", beruhigte ich sie und zog ihre Decke über uns. Sie reagierte gar nicht mehr auf meine Worte, denn sie war schon längst eingeschlafen. Doch ich fand nicht in den Schlaf. Zu sehr musste ich daran denken wie sie etwas vor mir weg gewichen war. Auch wenn sie es nicht zu geben wollte, sie hatte Angst vor mir.

Musik ist das was mich ausmacht *abgebrochen*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt