Sirenen

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Im Arcadia National Park ließ eine Sirene Boote am felsigen Ufer zerschellen. Bei ihrer Ankunft hatten sie nicht gewusst, dass eine Sirene hinter den mysteriösen Unfällen steckte, aber nun war Sam sich in dieser Hinsicht ziemlich sicher. Vor allem deshalb, weil er derzeit damit beschäftigt war, wie ein Idiot zu grinsen, während Dean ihr gestohlenes Motorboot direkt auf die besagten Felsen zusteuerte. Das Lied der Sirene hatte sich in Sams Kopf festgestetzt wie "Last Christmas" zur Weihnachtszeit, und er wusste, dass sie nur noch Minuten davon entfernt waren, an der Klippe zu zerschellen und zu ertrinken. Aber es gab nichts, was er dagegen unternehmen konnte. Oder unternehmen wollte, um ehrlich zu sein.

Jemand schnippte vor seinem Gesicht mit den Fingern.

"Konzentrier dich, Sam."

Im nächsten Moment blickte er in Luzifers graublaue Augen, und das Lied der Sirene verlor seine Macht über ihn.

"Scheiße", sagte er.

Der Teufel grinste. "Ich nehm an, das soll so viel heißen wie: 'Danke, Luzifer, dass du mir den Arsch gerettet hast.'"

Das hatte er tatsächlich, nicht wahr? "Danke", murmelte Sam. Lob, wem Lob gebührte. Selbst wenn es der Teufel war.

Dann wandte er sich Dean zu. Dessen Blick klebte immer noch auf einer kleinen weiblichen Gestalt hoch oben auf den Klippen, an denen sie gleich zerschellen würde. Sam versuchte ihn von den Kontrollen des Motorboots wegzuschieben, aber er rührte sich keinen Millimeter.

"Du kannst ihn nicht zufällig auch in die Realität zurückholen?"

Luzifer verdrehte die Augen. "Ich bin in deinem Kopf, nicht in seinem."

Ach ja. Sam machte die Kombination aus dem Sirenenlied und dem stetigen Schlafmangel dafür verantwortlich, dass er kurzzeitig vergessen hatte, dass Luzifer nichts weiter als eine Halluzination war. Aber wie sollte er Dean nun zur Vernunft bringen?

Luzifer zuckte die Schultern angesichts der stummen Frage. "In der Odyssee verschließen Odysseus' Männer sich mit geschmolzenem Wachs die Ohren. Und Orpheus rettet die Argonauten, in dem er auf seiner Leier ein Lied spielt, das lauter und noch schöner ist als das der Sirenen."

Sam blinzelte ihn ein wenig überrascht an.

"Was?", fragte Luzifer

"Dachte nicht, dass du so belesen bist." Allerdings hatten sie weder Wachs noch eine Leier dabei, und die Klippe kam inzwischen bedrohlich näher. Kurz entschlossen holte Sam aus. Er traf seinen Bruder direkt am Kind, und Dean kippte um wie ein nasser Sack. Sam fing ihn auf, bevor sein Kopf auf den Boden schlagen konnte, und legte ihn vorsichtig ab.

"Ich schätze, das funktioniert auch", sagte Luzifer trocken. "Die Winchester-Lösung."

Sam gelang es, die Geschwindigkeit des Motorboots zu drosseln. "Winchester-Lösung?"

"Nicht sehr elegant, aber effektiv."

Sam war sich nicht sicher, ob er beleidigt sein sollte oder nicht. Aber das Lied der Sirene hallte noch immer über das Wasser. Es war wunderschön, und ein Versprechen schwang darin mit. Doch es war, als hätte Luzifer zwischen ihm und der Musik eine Mauer errichtet. Er konnte sich ihr entziehen. Er konnte halbwegs klar denken. Wer hätte gedacht, dass es mal praktisch sein würde, den Teufel zum unsichtbaren Freund zu haben?

"Wie tötet man eine Sirene?"

Luzifer lehnte an der Reling des Boots und hatte das Gesicht in die Sonne gedreht, als wären sie auf einem Wochenendausflug oder so was. "Frag mich nicht. Die gehören noch nicht mal zur selben Mythologie wie ich."

The Devil on your Shoulder (deutsch)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt