Wir und die Unruhe

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Wieder sind Jako und ich in meinem Zimmer, hören Musik und unterhalten uns über die neuen Filmtrailer, als die Haustür sich schließt und zwei Schuhpaare das Wohnzimmer betreten. Fast aus Gewohnheit zucke ich beim Reden zusammen und werde angespannt, meine Mimik verhärtet sich. Jako bemerkt das, möchte etwas fragen und legt seine Hand an meine Schulter, doch ich deute ihm mit einem entschiedenen Blick, ruhig zu sein. Mein Herz schlägt bis zum Hals.
Gleich werden sie sich wieder gegenseitig fertigmachen.
Ich kaue auf meiner Unterlippe herum und kann Jako nicht in die Augen schauen. Er weiß, dass bei mir zuhause irgendeine Unruhe ist, doch ich hatte ihn immer sehr sorgsam von meinem Zuhause in letzter Zeit ferngehalten, einfach, damit er sich nicht sorgte und seine wertvollen Nerven unnötig wegen mir strapazierte, aber er war wirklich verdammt hartnäckig, und so blieb mir heute keine andere Wahl.
Klasse.
"Fuck.", sage ich und schaue unruhig durch das Zimmer.
"Was ist los?", will Jako nun wissen.
"Ich muss noch meine Wäsche aufhängen. Hab das total vergessen."
Ich versuche, meine Atmung zu kontrollieren. Mein Magen tut wieder weh. Und sicherlich wird meine Brust wieder unangenehm ziehen.
Anscheinend versteht er noch nicht komplett. Aber ich erkenne in seinen Augen, dass er vielleicht doch langsam die Lage begreifen kann.
Es macht mich schwach und menschlich, und davor habe ich Angst. Ich habe Angst, dass er mir mit allem helfen will. Angst, dass jemand an mir seine Zeit verschwendet. Der Gedanke ist falsch, viel zu falsch, und ja, das weiß ich, und ich weiß, es ist nicht in Ordnung und überhaupt nicht richtig, sowas zu denken. Selbstwertgefühl und so. Stay positive. Love yourself. Diese leidige Thematik. Es ist mir verdammt unangenehm. Ich möchte keine Schwäche und Verletzbarkeit zeigen.
Und bisher sollte das auch so bleiben.
Ich blinzle vermehrt, weil ich die heißen Träne beinahe unkontrolliert aufsteigen spüre, dann stehe ich nach gefühlten Minuten auf. Ich möchte keinen Ärger bekommen.
Auch wenn das die Personen unten im Wohnzimmer wohl zunächst kaum interessieren dürfte.
Die Magensäure kratzt gefühlt an meiner Speiseröhre, ich spüre den ganzen Stress schrittweise auf mich zurollen, und das bedeutet, dass ich mich echt beeilen muss. Jako folgt mir, obwohl ich sehr gerne gefleht hätte, er solle bitte in meinem Zimmer brav auf mich warten, aber er heftet sich stur an meine Fersen.

Bitte sei mal nicht so stur wie ich, Jako.
Bitte komm nicht mit runter.
Bitte, bitte, bitte.

Ich denke es nur, aber ich traue mich nicht, es auszusprechen, denn gerade ist meine Stimme zu schwach und ich würde nur wieder viel zu sehr zögern.
Auch wieder eine Schwäche von mir.
Ich scheine viel zu viele Defizite aufzuweisen.
Ich verbiete mir, den Kopf zu schütteln. Gehe leise die Treppe runter. Ich möchte da sein und verschwinden. Wünsche mir, unsichtbar, ein Geist zu sein, nicht existent. Was ich in diesem Alltag quasi bin. Mein Zimmer ist mein geheimer Wald. Ich möchte nicht, dass jemand anderes diesen Ort betritt. Es ist mein Heiligstes.
Und irgendwie darf nur Jako hier rein. In diesen kleinen Ort.
Ich presse die Lippen aufeinander, dann zwinge ich mir ein leichtes Lächeln auf, begrüße meinen Vater und meine Stiefmutter. Sie sehen kaum auf, nur mein Vater tut mit seiner betont fröhlichen Stimme wieder so, als sei das nur eine dieser Diskussionen. Nichts weiter.
Nur kleine Meinungsverschiedenheiten.
Und ich hatte es wirklich am Anfang geglaubt. Ich wollte wirklich daran glauben. Aber irgendwann konnte ich mich nicht mehr anlügen.
Zu Jako sagt keiner was.
Er wird gesehen, und meine Eltern verkneifen sich einen Kommentar.
Sie versuchen nicht mehr, mich etwas zu trietzen, mich aufzuziehen, um von sich abzulenken.
Kommentare, die Eltern eben so bringen, wenn man nach längerer Zeit Männerbesuch hat, als Ghoul, der keinen Typen mehr an sich ranlässt.
Eigenbrötler. Einsamer Wolf.
Eigensinnig. Speziell.
Es ist liebevoll gemeint, und ich weiß, sie wünschen sich nichts lieber, als mich wieder glücklich und strahlend zu sehen. Eigentlich bin ich so.
Aber uneigentlich nicht.

Ich gehe schnell die Treppen zum Keller hinunter, biege nach links in den Waschkeller und Vorratsraum, Jako dicht hinter mir. Ich habe Angst, dass er mir hinten rein rennt.
Gehe zögernd zur Seite, Richtung Waschmaschine. Die Stille im Haus ist schrecklich bedrückend, ich bin verdammt angespannt, der nächste Streit, Ausbruch, die lautstarke Auseinandersetzung könnte jeden Moment wieder losgehen.
Und ich schäme mich.
Ich habe Angst, was Jako denken könnte. Dass er schockiert ist.
Weil er das vielleicht nicht von seiner Familie kennt. Ich weiß es nicht.
Ich habe ihn nie wirklich gefragt.
Aber ich fühle und ahne, dass er früher und auch jetzt manchmal kleine Schwierigkeiten mit seinem Vater hat, weil er keinen richtigen, einfachen Beruf gewählt hat.
Letzen Endes macht der Vater sich nur Sorgen. Aber er kann es nicht richtig rüber bringen.
Und Jako versteht es auch falsch.
Macht dicht. Wird stur. Beharrt nur auf seine Meinung. Wird harsch.
Und zieht sich dann zurück.
So wie ich.
Schweigend räume ich die Wäsche aus der Maschine in den Plastikkorb, schließe dann den Deckel und bin gerade dabei die ersten Kleidungsstücke aufzuhängen, als es laut wird. Meine Eltern nehmen nicht einmal mehr Rücksicht auf Besuch.
Ich höre die Sticheleien, die Vorwürfe, den Hass, die Beschuldigungen,
das Gift in den Stimmen.
Das ganze Haus ist vergiftet.
Und meine Augen brennen nun noch mehr. Meine Hände beginnen zu zittern. So wie mein ganzer Körper zu zittern beginnt. Jako sieht es noch nicht, denn ich habe ihm den Rücken zugedreht, hänge weiterhin stumm die Wäsche auf. Bis es richtig laut wird. Ich höre die verbalen Verletzungen. Dann spüre ich, dass mein Gesicht längst nass von den Tränen ist. Ich wollte doch nicht mehr weinen. Und schon gar nicht vor anderen. Jako sollte mich nie weinen sehen. Das war nie geplant.
Doch ich kann kaum noch vor lauter Tränen sehen, hänge die letzten Sachen leise schniefend auf, gehe dann ein paar Schritte nach links Richtung Wäscheschrank, drücke mir die Finger feste in die Ohren und sinke auf Knien leise weinend zu Boden.
Ich will das nicht mehr hören.
Ich ertrage das nicht mehr.
Ich will nicht hören, wie sie sich gegenseitig mit Worten wehtun.
Merke nicht, wie ich ganz leise
'Ich kann das nicht mehr' flüstere, immer wieder. Und merke auch zuerst nicht, wie Jako mich stumm von hinten an sich zieht, seine Arme beschützend und warm um mich legt, mich weinen lässt und mich hält.
"Ich bring dich hier weg.", höre ich ihn irgendwann entschieden mit leiser Stimme sagen.

"Und du wirst dir deswegen bitte kein schlechtes Gewissen machen. Und versuch, nicht mehr hinzuhören.
Hör nicht mehr hin. Ich pack mit dir deine Tasche. Dann sind wir hier weg. Verstehst du, Jenny? Du darfst dir das nicht mehr anhören. Das tut dir nicht gut. Das seh ich doch. Du weinst ja ganz schrecklich. Ich kann nicht sehen, wenn du weinst. Dann muss ich bald auch weinen.
Hey. Nicht hinhören.
Wir sind hier gleich weg.", redet er auf mich ein, schüttelt mich sanft.
Ich hicke, nicke aber verstehend.
Zitternd stehe ich auf, und Jako hilft mir die Treppe hoch, wischt mir auf der Hälfte der Stufen die Tränen aus dem Gesicht, weil ich nicht will, dass meine Eltern mich verheult sehen, ehe wir weiter hoch in mein Zimmer gehen. Er sucht eine größere Reisetasche aus dem Bettkasten, zieht wahllos Shirts, Pullover und Wäsche aus dem Schrank, packt meine Zeichensachen dazu, zwei meiner Lieblingskissen, meine Schminktasche sowie meinen Geldbeutel, und drückt mir zum Schluss mein Plüschschwein in die Arme. "Damit du was zum Kuscheln hast. Obwohl die Jungs dich sicher auch gerne knuddeln wollen.", meint er grinsend, nimmt mich dann sanft in den Arm, nun ja, sofern das kniend möglich ist, während ich noch leise schniefend und von den Tränen benebelt auf dem Bett wie nicht abgeholt auf der Matratze sitze, und streicht mir über den Rücken.
"Ich bleib immer bei dir, okay?
Wir passen alle auf dich auf.
Und irgendwann wird auch hier Ruhe einkehren. Aber zunächst wird das hier einfach keinen Sinn machen.
Also, komm.", sagt Jako, nachdem er sich von mir gelöst hat, und streicht mir mit besorgten, großen Augen über den Kopf.
"Mach dir also bitte keine Gedanken, okay? Auch wenn du wieder zu viel nachdenkst.
Tu es wenigstens jetzt nicht.
Ich mach das schon.
Es wird wieder alles okay."
Dann hilft er mir beim Aufstehen, geht mit mir die Treppen runter, verabschiedet sich höflich.
Ich habe mein Schwein mit bebendem Herzen und schlotternden Beinen an mich gepresst, schlüpfe in die Stiefel und ziehe meine Winterkleidung an.
Jako zieht ebenfalls Jacke, Palituch und Stiefel an, dann gehen wir ohne weitere Worte aus dem Haus.
Meine Eltern diskutierten weiter.
Sie bemerkten es nicht einmal richtig.
Jako ruft ein Taxi, und hat mich halb im Arm, streicht mit dem Daumen über meinen Oberarm.
Dann beugt er sich etwas zu mir hinunter.

"Wir sind in ein paar Stunden zuhause."

Ich weiß ja nicht.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt