Kannst du mich sehen

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Ich bin in einer willkürlichen Bar.
Mit Freunden.
Ich betrinke mich.
Ein bisschen.
Der Schnaps brennt in meiner Kehle, aber es hilft mir, zu vergessen, dass du noch immer in meinem Herzen bist, warst.
Nein, du wirst immer ein Teil von mir sein.
Ich bekomme selten Lebenszeichen von dir. Gerade hab ich kein Internet.
Vor einigen Tagen fragtest du unterschwellig nach Ideen, du hattest keine für deine neue EP, Album,
bei dir wusste man das nie so.
Ich hatte Ideen, für dein Cover.
Das ist ein paar Tage her.
Ich rechne kaum noch mit jeglicher großartiger Reaktion, erwarte auch nichts, dir geht es doch schlecht, sehr schlecht.
Ich mache mir meine Gedanken, sage aber zu mir im Kopf, mach dir nicht zu viele Gedanken.
Es klappt etwas.
Wir trinken und spielen Trinkspiele.
Nun sollen wir die Augen fest schließen oder und dürfen sie auf keinen Fall öffnen.
Werden etwas weiter weg vom runden Tisch gestellt, und wir müssen mit dem Tastsinn unser Gegenüber erraten.
Ich schaue den anderen zu, lache mit, trinke mein Getränk, aber meine Augen lachen nicht immer mit.
Dann bin ich dran.
Unsinnigerweise werde ich um die zehnmal gedreht, ich höre die schwere Tür sich öffnen und schließen, aber der Lärmpegel in der gut gefüllten Bar macht es mir unmöglich, zu erahnen, wohin die Schritte gehen, und ich hoffe, nicht gegen wen zu stoßen.
Unwohl fühle ich mich sowieso sehr, weil ich ungern so ungeschützt ohne Sicht irgendwo stehe.
"Steht da jemand? Kann ich es jetzt bitte hinter mich bringen? Es ist so unangenehm, Leute...", beschwere ich mich unsicher lachend, eine Freundin ruft 'Kann losgehen', und sehr vorsichtig -eine Hand um meine Hüfte geschlungen, weil ich mich schützen will- sehr vorsichtig und langsam suche ich die Dunkelheit nach einer menschlichen Person ab, bis ich eine nasse Jacke und einen langen, ebenfalls leicht nassen Wollschal ertaste. Warum sind die Klamotten nass? War einer der Freunde draußen und es hat geregnet? Ich nehme die andere Hand dazu und taste meinen Weg nach oben. Haare. Lange Haare.
Ebenfalls leicht feucht vom Regen.
Ich rieche Zigarettenrauch.
Ein Mädchen vielleicht?
Ich rate zögerlich einen Namen meiner Freunde. Bekomme ein 'Falsch'. Komme am Gesicht an.
Sehr sanft streiche ich über die Konturen, die leicht spitzen Wangenknochen, das schmale Gesicht, die vollen Lippen.
Ich schlucke, werde nervös und noch unruhiger. Wer verdammt ist das?
Überlegend und mit pochendem Herzen ziehe ich die Brauen eng zusammen und streiche langsam direkt unter die Lippen, erfühle einen leichten Bart, dann die Stoppeln am Kinn. Ich schlucke erneut.
Meine Lippen sind ganz trocken.
Rate erneut einen Namen.
Irgendeinen meiner Freunde.
Es kann nicht sein.
Das ist nicht möglich.
Plötzlich wird meine rechte Hand genommen. Ein Daumen streicht ganz vorsichtig und langsam über meinen Handrücken. Eine warme Männerstimme spricht, ich höre das unsichere Lächeln heraus.
"Kannst du mich sehen?"
Zitternd nicke ich.
Ich kann kaum sprechen.
"Niklas.", sage ich leise.
Schlage die Augen auf.
Blinzle vermehrt.
Tatsache.
Niklas lächelt nun.
"Du bist ja ganz nass vom Regen."
"Ich hab nur irgendwie versucht, auf mich aufzupassen. Weißt du nicht mehr?" Ein ganz leises Lachen kommt aus seiner Kehle.
"Doch. Weiß ich. Die ganze Zeit."
Ich blinzle die Tränen weg, die sich in meinen Augen sammeln und lasse mich in die kühlen, wärmsten Arme sinken und streiche über seinen Rücken.
"Wurde Zeit, dich wiederzusehen.", nuschelt er leise, ich nicke.
"Ja."

Ich weiß ja nicht.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt