Du siehst scheiße aus.

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Heute hatte sie genug von den CD's, die sie tagein, tagaus beim Praktikum hörte, also schloss Jenny kurzerhand ihr eigenes Smartphone an, drehte die Lautstärke auf und ging tänzelnd zurück zur Bügelplatte. Heute war sie wieder allein im Laden, und besonders viel los war auch noch nicht, und es war nicht mehr lange zum Feierabend. Oft schaute sie aus dem Schaufenster in den Weinladen gegenüber, sah die weihnachtliche Beleuchtung und die Leute, die ein und aus gingen. Paare, die kitschig verliebt eine Flasche aussuchten, ältere Weinkenner, wie sie sich dazudichtete, denn sie wusste in Wirklichkeit ja nie, warum oder was die Leute das kauften und beruflich oder privat so trieben, aber sie dachte manchmal gern darüber nach, es brachte Abwechslung in ihren Alltag und hielt ihren Kopf, ihre Fantasie halbwegs auf Trab.

Gerade war sie mit Bügeln fertig, als sie ein paar Geschirrtücher mithilfe einer Leiter in den hohen Regalen einsortierte, als die Tür aufging und sie ganz kurz zusammenzuckte, da sie zum einen schreckhaft war und zum anderen seit Stunden niemand den Laden betreten hatte. Und sie hätte beinahe ihre Träumereien und ihren Wahnsinn beschuldigt, sich die Gestalt ausgedacht zu haben, die gerade ohne geraden Gang das Atelier betreten hatte, aber- und das musste sie nach einigen Sekunden eingestehen-war der hochgewachsene Mittzwanziger sehr echt, und direkt platzte der erstbeste Satz heraus, der ihr zu diesem Gesamtbild einfallen konnte. "Alter, siehst du scheiße aus."

Langsam, aber automatisch ging sie die Leiter hinunter, schlenkte zur Seite, da der Platz hinter dem Tresen nicht sehr breit war, stellte die Leiter nahe an die Wand, und schritt noch langsamer, als würde sie sich das noch immer einbilden, auf den blassen, Langhaarigen mit dem ihr viel zu bekanntem Gesicht zu, sah mit einem Anflug von Besorgnis, der sekündlich etwas anstieg, die aufgerissenen Lippen, die noch dazu leicht bläulich waren, und die noch dunkleren Augenringe. Ihr Gegenüber schnaubte nur, ehe er vermehrt blinzelte und sie so geradewegs wie nur möglich ansah. Seine Kleidung, das Gesicht und die Haare, frisiert zu einem lieblosen Halfbun, waren feucht vom Hamburger Wetter und er schien eindeutig zu frieren. "Ich hab' noch Brot in der Küche, Aufstrich mit Paprika oder so. Kannst du alles essen. Und ich mach' dir Tee.", sagte die junge Frau geistesgegenwärtig und schob die Absurdität der Situation beiseite. Denn großes Starren und Wundern konnte sie sich auch noch für später aufheben, helfen würde ihm das jetzt auch nicht.

Genauso selbstverständlich legte sie ihm die Hand an den Rücken und schob ihn Richtung Küche, und kaum hatte er den Stuhl erreicht, drückte sie ihn auf diesen, schnappte sich den Wasserkocher, kippte das alte Wasser aus, füllte neues nach, stoppte die Wasserzufuhr, platzierte den Kocher auf dem Stecker, schaltete ihn ein und nahm eine große Tasse aus dem Schrank. Dann kramte sie in ihrem Rucksack, nahm die Brotdose heraus, öffnete sie, holte eine Scheibe heraus und legte die Dose vor den sehr überraschenden 'Besuch' auf den kleinen, runden Tisch, ehe sie ihm das Brot vor das Gesicht hielt, und langsam reagierte er.

"Jako, du siehst scheiße aus.", wiederholte Jenny trocken und bedeutete ihm, vom Brot zu essen. Zögerlich und mit leichter Dankbarkeit biss er schließlich ab und kaute langsam, ehe er das Stück runterschluckte, Jenny drehte sich augenblicklich um, nahm noch ein Glas heraus, befüllte es mit Leitungswasser und reichte es ihm. Eine alte Angewohnheit aus den Zeiten, als sie im Service gearbeitet hatte und die sie nicht abstellen konnte, auch, weil sie die Gastfreundlichkeit in Person war, zumindest bei ihren engen Freunden und Leuten, die ihr etwas bedeuteten. Jako gehörte nun einmal dazu.

Das Wasser kochte, brodelte laut auf, ehe es leiser wurde und Jenny sich umdrehte, das kochende, heiße Wasser in die Tasse mit dem Teebeutel kippte, den Kocher wieder an seinen Platz setzte, und sich mit der Teetasse schräg gegenüber von Jako hinsetzte, bevor sie die Tasse leise auf dem Tisch abstellte. Der Dampf verflog im Raum, und nachdem der Ältere aus dem Glas getrunken hatte, sprach er endlich. Oder eher gesagt wandte er sich an sie. "Ich brauch' deine Hilfe." Seine Stimme klang rau und verbraucht, er musste dem kühlen Wetter draußen schon ein wenig ausgesetzt gewesen sein. Oder er hatte auch unter anderem viel geraucht. Vielleicht noch anderes. Einen Moment brauchte sein Gegenüber, um das Gesagte richtig zuordnen zu können. Jenny schluckte.

"Wobei?"

"Ich muss wo pennen. Paar Tage. Keine Ahnung."

"Woher wusstest du, wo ich bin? Hast du hier keine Freunde? Warum bist-"

"Erklär ich dir später genau. Zum ersten...ich war verzweifelt, ich wusste nicht, wohin mit mir. Ich brauchte wen, der mich kennt, der freundlich, aber noch neutral genug ist, weil wir uns nicht genug kennen....vollkommen bescheuert, ich weiß...und keine Ahnung, was mit mir durchging, einfach hier aufzutauchen."

Er nahm einen tiefen Atemzug, hob die Brauen, sah so unfassbar erschöpft aus.

"Ich brauche für ne Zeit Abstand von den anderen, verstehst du?"

Langsam nickte Jenny, viel sagen konnte und wollte sie bisher nicht. Was hätte sie auch sagen können? "Es gab nen krassen Streit zuhause....und-" er stockte und fuhr sich über das Gesicht. Er schien Probleme beim Reden zu haben.

"Iss erstmal was. Du siehst noch dünner aus also sonst.", sagte Jenny leise und starrte hastig in die Tasse. "Tschuldige. Geht mich eigentlich nen' Scheiß an, was du machst."

Jako lächelte halbherzig. "Aber du hast Recht. Hab ja deine Kommentare zu einigen Bildern gesehen. Alle machen sich Sorgen um mich.", sprach er, schüttelte zum Ende den Kopf leicht und seufzte. "Und ich hab's verbockt. Ich hab Felix wieder angeschrien, als er nur mit mir reden wollte. Dann hat er mich rausgeschmissen und gesagt, ich solle mal nen klaren Kopf bekommen...und ich fahr einfach nach Hamburg. Nur die wichtigsten Sachen. Einfach nur dumm."

Einen Moment schwieg sie, überlegte fieberhaft.

"Pass auf. Ich hab so gut wie Feierabend heute, die zehn Minuten früher kann ich den Laden auch zumachen. Trink den Tee, dann kommst du mit zu mir. Dich bei dem Wetter und in dem Zustand draußen rumlaufen zu lassen wäre fahrlässig von mir. Ich hoffe nur, du bist okay damit, zu kurze Jogginghosen zu tragen, denn so nass, wie deine Klamotten sind, würdest du garantiert ne Lungenentzündung bekommen, und das muss ja nicht auch noch sein.", sprach die junge Künstlerin und lächelte leicht, wobei die Sorge dennoch deutlich in ihrem Gesicht zu sehen war.

"Aber du weißt schon, dass es etwas peinlich für mich ist, wenn du meine halbe Timeline runtergescrollt hast, nur um zu wissen, wie der Laden meines Praktikums heißt, oder?", fügte sie hinzu und grinste. "War nicht Twitter. Insta. Hab mal in der Story gesehen, dass du Fotos dafür machst.", sagte er schulterzuckend. "Ich wusste nicht, wie ich dich anschreiben soll, ohne dass es komisch kommt."

Die Kleinere verdrehte die Augen, murmelte 'Ist dann eben so' und packte die Brotdose wieder ein. Jako aß den Rest des angefangenen Brotes auf und trank den Tee, ehe sie die leere Tasse in den Spüler räumte, das Licht ausschaltete und ihre Wintersachen anzog, schließlich mit ihm den Laden verließ und die Tür abschloss und prüfte, ob sie wirklich zu war. Dann gingen sie den Weg zur Bahn und stiegen schließlich in ein Abteil ein. Jenny unterstand dem Drang, die Jeansjacke zu berühren, eine Macke, die sie eigentlich nie unterlassen konnte. Sämtliche Materialien, Haare oder ähnliches musste sie anfassen, einfach, weil sie ein neugieriger Mensch war und das Gefühl unter den Fingerkuppen mochte. Es ließ sie sich existent fühlen. Aber sie erkannte auch so, wie vom Regen durchtränkt der Musiker war, und dass er auch zitterte und am Liebsten hätte sie ihn umarmt, aber das wollte sie nicht einfach so tun.

Und skurril genug war die gesamte Situation ja bereits.

"Wird schon wieder, okay?"

Jetzt hatte sie doch die Hand auf seine Schulter gelegt und drückte diese sanft.

Jakos Kopf zuckte unmerklich nach links zu ihr, er schaute sie aus großen Augen an und lächelte lediglich traurig.

"Ich hoffe es. Und danke dir."

"Kein Ding."

Ich weiß ja nicht.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt