Zwei Minuten in einer fremden Welt...

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Hier bin ich nun, umringt von Menschen, deren Namen mich nicht mal interessieren. Nicht einen Meter habe ich für mich allein, doch fühle ich mich einsam. Ich höre wie ihr redet, ich sehe wie ihr hier seid und doch seid ihr unerreichbar für mich. Ein Meer voller Menschen, doch niemand für mich. Kontakt ist unter Unbekannten unerwünscht geworden. Jeder hat genug Kontakt, doch nicht von Angesicht zu Angesicht. Es ist leichter zu sagen was man wirklich denkt, wenn die Person dann nicht vor euren Augen anfängt zu weinen. Das Selbstvertrauen gewinnt ihr durch den emotionslosen Kontakt, der nun an der Tagesordnung steht.

Die Bahn fährt durch einen Tunnel, doch ihr bemerkt es nicht mal. Die Welt da draußen, für euch scheinbar nicht mehr da. Vertieft in eure digitale Welt, die niemals ruht. Jeder ist jeder Zeit erreichbar. Um mich herum höre ich genervte Flüche. Der Empfang. Erst jetzt bemerkt ihr, wo wir eigentlich sind. Zwei Minuten seid ihr nun in der realen Welt gefangen. Manche stören sich nicht daran, tippen sich einfach weiter an der Nächsten Nachricht. Andere blicken das erste Mal auf, auch du.

Unsere Blicke treffen sich. Du lächelst und ich auch. Es schmeichelt mir, dass du mich siehst zwischen all denen hier. Ich freue mich, etwas besonderes für dich zu sein. Jemand unter vielen. Doch dann reißt dein Blick sich los, wandert weiter durch die Menge. Weiter behalt ich dich in Blicke, versuche den deinen wieder einzufangen. Doch alles was ich sehe, ist Lächeln von dir. Doch nicht für mich. Noch vor einem Augenblick war ich es, die deine Aufmerksamkeit hatte. Doch bereits jetzt hast du mich vergessen. Mein Blick wandert zu ihr. Noch immer sind eure Blicke miteinander verankert. Du findest sie besser als mich. Sie ist hübscher, größer und schlanker als ich. Sie ist es, die du vielleicht einmal auf einen Kaffee treffen willst. Und ich bin die, die du für zwei Sekunden einmal bemerkst, bevor ich sofort aus deinem Gedächtnis gestrichen werd. Alles zieht sich in mir zusammen, ich kenne das Gefühl. Und doch kann ich nichts dagegen tun. Nun ich nur muss noch vergessen, dass es diesen Augenblick je gegeben hat, dann ist's als hätt' ihn nie gegeben.

Ein Kind schreit auf einmal los. Weint und Schreit den Wagon zusammen. Kurze böse Blicke aus allen Ecken, doch niemand sagt etwas dazu. Genervtes Augenverdrehen. Ihr scheint vergessen zu haben, dass auch ihr mal Kinder wart. Rücksicht ist kein Begriff, Verständnis eine Farce. Euch stört der Lärm, doch wenn ein Klingeln aus eurer Tasche ertönt, dann ist's kein Problem.

Und ihr, ihr seid selbst noch halbe Kinder, die mir hier gegenüber sitzen. Und dennoch flüstert ihr kichernd böse Dinge. Ihr redet über Menschen, die ihr gar nicht kennt, als wären sie die schlechtesten Personen der Welt. Euch stört es nicht, dass man euch hört, denn ihr denkt euch gehört die ganze Welt. Ihr seid jung und habt so große Pläne. Die Welt wie ihr sie kennt, dreht sich nur um euch. Ihr bekommt alles, was ihr euch wünschen könnt. Doch wie lange noch, frage ich mich. Wann werden diese halben Kinder erwachsen?

Nun redet ihr über eure Bilder. Bilder im Internet für Jedermann sichtbar. Noch gefallen sie euch. Ihr schmückt euch stolz mit euren Zahlen. Doch schon bald werdet ihr rot werden vor Scham, wenn sie zu Gesicht bekommt.

Doch ich selbst bin selbst nicht besser. Ich bin nur eine von vielen, rede schlecht über Menschen, die ich gar nicht kenn, fühle mich gestört vom Weinen des Kindes und bemerke nicht mal, dass wir wieder an einer Haltestelle anhalten. Schmücke mich mit den Komplimenten, die ich im Internet erhalte, von Menschen, denen ich nie persönlich begegnet bin. Und als wir wieder aus dem Tunnel herausfahren, da bin ich genauso wie die Menschen um mich herum wieder in meiner eigenen kleinen Welt.

Gedanken einer UnsichtbarenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt