1. Kapitel: Willkommen auf St. Lucia

9.3K 257 41
                                    


Wehmütig starre ich aus dem Autofenster und betrachte die vorbeiziehenden Felder und Wiesen. Meine Heimat gleitet an mir vorbei und ich widerstehe dem Drang, die Autotür aufzureißen und hinauszuspringen. Im Radio dudelt irgendein Song von Adele und Sabine lacht. Ich beobachte, wie sie meinem Vater, der hinter dem Steuer sitzt, mit einer Hand den Nacken massiert. Mit ihren langen, roten Krallen wird sie ihm den Hals zerkratzen. Wie ich sie verabscheue! Sie ist eine ekelhafte Hexe und Schuld daran, dass ich von zuhause fort muss. Erst als ich den metallischen Geschmack von Blut schmecke, merke ich, dass ich mir auf die Lippe beiße.

„Jetzt zieh doch nicht so ein Gesicht, Daniela", hatte sie gesagt und sich neben mich gesetzt. „Dir wird es ganz bestimmt auf St. Lucia gefallen. Bestimmt lernst du nette neue Freundinnen kennen."

Ha-ha! Sehr komisch! Ich bin so ziemlich die verklemmteste und kontaktscheuste Person auf dem Planeten Erde. Ich hatte es in der Schule schon nicht geschafft, Freundinnen zu finden. Warum also sollte es mir in diesem beschissenen Internat gelingen? Sie würden mich ignorieren, genauso wie es immer geschah. Aber Sabine kapierte das einfach nicht. Sie lebte in ihrer rosaroten Zuckerwattenwelt, in der alles perfekt war.

„Du willst mich doch nur loswerden", fauchte ich sie an. „Damit du dich in Ruhe an meinen Vater ranmachen kannst."

„Daniela, wie kannst du so etwas sagen?" Ihre Gesichtszüge entglitten ihr für einen Moment. Dann bekam sie sich wieder unter Kontrolle. „Ich würde dich nie, hörst du, NIEMALS loswerden wollen. Ich liebe dich doch, wie mein eigenes Kind."

„Das kannst du meinem Vater erzählen, aber nicht mir", brummte ich und kickte mit dem Fuß gegen meinen halbgepackten Koffer, der auf dem Boden vor mir ausgebreitet lag.

„Bitte, Daniela, jetzt mach kein Theater und packe deine Sachen. Wir müssen in einer Stunde los, wenn wir vor dem Feierabendverkehr auf die Autobahn fahren wollen." Mit diesen Worten verschwand sie aus meinem Zimmer und ließ mich mit meiner Wut allein. Ich hätte am liebsten etwas kaputtgeschlagen, doch dann kam mein Kater Graubär herein und tröstete mich. Schnurrend schmiegte er sich an meine Beine. Ich kraulte ihm das Fell. „Dich werde ich am meisten vermissen, mein Großer", sagte ich und ließ mir von ihm die Finger ablecken. Schließlich schaffte ich es doch noch irgendwie, meinen Koffer fertig zu packen und mich von meinem trauten Heim zu verabschieden. Mein Vater hatte sich extra einen Tag frei genommen, um mich persönlich ins Internat fahren zu können. Wenigstens ließ er mich nicht mit Sabine alleine.

Wir fahren von der Straße ab und biegen in einen Waldweg ein. Ein Schild kündigt an, dass die Distanz zum Internat St. Lucia noch einen Kilometer beträgt. Ich atme tief durch. In meinem Bauch grummelt es und ich habe das Gefühl, auf die Toilette zu müssen. Meine Hände schwitzen und ich hoffe inständig, dass sich der letzte Kilometer ewig zieht. Unser Wagen holpert über den Kies zwischen hohen Nadelbäumen hindurch. Die Sonne dringt nur schwach durch das Dach aus Zweigen und mein Vater schaltet die Scheinwerfer ein.

„Da vorne ist es!", ruft Sabine plötzlich und klatscht in die Hände. Ich schaue aus dem Fenster und erkenne die Mauern eines alten, bräunlichen Gebäudes. Es sieht ein wenig aus, wie ein Schloss. Tatsächlich hatte hier vor über hundert Jahren einmal eine Grafenfamilie gehaust. Doch der letzte Erbe fühlte sich in den alten Mauern nicht häuslich. Deshalb gründete er darin das Internat. Diese Informationen hatte ich aus der Broschüre, die mir Sabine gegeben hatte und in die ich nach vergeblichen Protesten doch noch einen Blick geworfen hatte.

Mein Vater fährt auf den Parkplatz vordem Gebäude und hält an. Wir steigen aus dem Auto und ich hole meinen Koffer aus dem Kofferraum.

„Dann ist es wohl Zeit, sich zu verabschieden", sagte Sabine und hat Tränen in den Augen. Diese Heuchlerin! Sie breitet die Arme aus und drückt mich an sich. Ich lasse ihre Umarmung über mich ergehen und tätschle ihr brav den Rücken. Danach umarme ich meinen Vater und drücke ihm einen Kuss auf die Wange.

Freche Mädchen küssen besser (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt