48. Kapitel: Dr. Siepers

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Triggerwarnung: Dieses Kapitel enthält sensible Themen wie Suizidalität, Ohnmacht, Depression, Binge Eating und Mobbing. Menschen, die davon getriggert werden könnten, sollten besser nicht weiterlesen.


Ich habe Claudia noch nie so hilflos und verletzlich gesehen. All die Arroganz, übertriebene Selbstsicherheit und Perfektion fallen wie eine Maske von ihr ab und zurück bleibt ein Häufchen Elend. Ich bin so überwältigt von ihrer Geschichte, dass ich nicht weiß, wie ich reagieren soll. Ich entscheide mich für eine Umarmung, warm und innig. Für ein paar Augenblicke halte ich sie einfach nur fest, während sie ihren Gefühlen freien Lauf lässt.
Schließlich hebt sie den Kopf und sagt mit erstickter Stimme: »Du musst das nicht tun, Dany. Ich stinke bestimmt furchtbar nach Schweiß.«
»Das ist doch egal. In der Situation, in der du gerade bist, darfst du nach Schweiß stinken. Du könntest sogar nach Pferdemist riechen, ich würde dich trotzdem umarmen.«
Ihre Mundwinkel zucken. »Danke«, flüstert sie.
Wir schweigen noch eine Weile, bis Claudia sich beruhigt an. Es ist kühler geworden und ich habe keine Ahnung, wie lange wir hier schon sitzen. Dennoch bin ich entschlossen, diese Bank nicht zu verlassen, bevor Claudia mir nicht alles erzählt hat.
Sie wischt sich die Tränen mit dem Ärmel ab, an dem bereits sämtliches Make-up klebt und atmet tief durch. »Als ich an diesem Tag nach Hause gekommen bin, habe ich mich sofort in meinem Zimmer eingeschlossen und Rotz und Wasser geheult«, fährt sie mit heiserer Stimme fort. »Das Kindermädchen hat versucht, mich zum Mittagessen zu überreden, aber ich habe sie weder in mein Zimmer gelassen, noch bin ich rausgekommen. Sie hat gesagt, dass ich ein bockiges Kind sei und sich wieder vor den Fernseher gesetzt. Irgendwann konnte ich nicht mehr weinen und habe mich daran gemacht, meine Vorräte unter dem Bett vorzuholen und komplett aufzuessen. Danach war mir schlecht und ich hasste mich so abgrundtief, dass ich nur noch sterben wollte. Ich bin ins Bad gerannt - aber anstatt mich zu erbrechen, habe ich Papas Rasierklingen genommen und - na, du kannst dir den Rest wohl denken.«
»Oh, Claudia!« Jetzt bin ich diejenige, die den Tränen nah ist. »Ich bin so froh, dass es schiefgegangen ist.«
Claudia nickt langsam. »Ja, ich auch. Fast wäre es zu spät gewesen. Glücklicherweise hat das Kindermädchen gehört, wie ich ohnmächtig auf den Fliesenboden aufgeschlagen bin.«
Ich bin vollkommen sprachlos und ein leises Schluchzen entfährt mir. Mein Blick ist verschleiert und verliert sich im Nichts. In mir toben Trauer, Mitleid, aber auch tiefe Dankbarkeit, dass Claudia überlebt hat. Ich verstehe, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, dass sie jetzt, vier Jahre später, neben mir sitzt und davon erzählt.
Claudia legt ihren Arm um mich und streichelt meinen Rücken. »Weine nicht, Süße.«
»Doch«, schniefe ich. »Es ist so aufwühlend und - ich bin so froh, dass -« Meine Stimme versagt und Rotz läuft mir aus der Nase. Ich krame in meinen Hosentaschen nach einem Taschentuch, doch Claudia ist schneller und reicht mir eines. Kräftig schnäuze ich hinein.
»Soll ich noch weitererzählen?«, fragt Claudia vorsichtig. »Oder überfordert dich das?«
»Ich bin schon okay.« Ich räuspere mich. »Bitte erzähl weiter. Ich will doch wissen, was Dr. Siepers mit all dem zu tun hat.«
»Er war mein behandelnder Arzt. Damals arbeitete er noch in der Klinik in meinem Wohnort, deshalb war ich auch so geschockt, ihn hier zu sehen. Ich habe nicht mit ihm gerechnet.«
»Hat er dich nicht gut behandelt?«
»Oh doch.« Claudia zupft wieder an der Nagelhaut ihres Daumens herum. »Er war wunderbar. Ich meine, er hat mir das Leben gerettet. Ich hatte viel Blut verloren und eine Gehirnerschütterung vom Aufprall. Dr. Siepers meinte, dass ich Glück gehabt hatte, kein schweres Schädel-Hirn-Trauma erlitten zu haben. Das hätte böse ausgehen können.«
»Ich kenne mich mit sowas nicht aus, aber es klingt schlimm.«
»Ist es auch. Ich hätte irreparable Hirnschäden davontragen können. Die Schnittwunden waren genäht geworden und mir stand ein Aufenthalt in der Psychiatrie bevor. Ich hatte solche Angst. Am liebsten hätte ich nur geschlafen, um für eine Weile der Realität zu entfliehen. Aber dann quälten mich Albträume und ich war froh, wenn ich wieder wach war.«
»Was für ein Dilemma.« Zwar habe ich das selbst nie erlebt, aber ich glaube, ich kann mich trotzdem in Claudia hineinversetzen. Auch wenn meine Vorstellung davon sicher nur eine vage Idee von ihrem traumatischen Zustand ist.
»Dr. Siepers war die ganze Zeit an meiner Seite. Er hat mir Mut zugesprochen, mich immer wieder mit seinen Witzen aufgeheitert und mir das Gefühl gegeben, wertvoll zu sein, so wie ich bin.« Sie lächelt sanft bei der Erinnerung.
»Aber das ist doch schön«, sage ich stirnrunzelnd. »Wieso versteckst du dich dann vor ihm?«
Ihr Blick wird ernst und sie kaut wieder an ihren Nägeln herum. »Weil ich einen verdammten Fehler gemacht habe.«
»Einen Fehler? Was hast du denn angerichtet, dass du ihm jetzt nicht mehr unter die Augen treten möchtest?«
»Ich habe ihn geküsst.«
Ich kann nicht anders, als laut aufzulachen. Sowohl vor Erleichterung, als auch vor Erheiterung. »Da wird er sich aber gefreut haben, ein Bussi von einer Zwölfjährigen zu kriegen.«
»Nein, hat er nicht«, brummt Claudia und errötet. »Er fand das total daneben und als ich ihm gesagt habe, dass ich in ihn verliebt bin, hat er mich an einen anderen Arzt abgegeben. Einen grimmigen alten Sack, dem ich total egal war. Ich war fast erleichtert, als ich endlich in die Psychiatrie kam. Und das, obwohl ich solche Angst davor hatte.«
»Das ist dumm gelaufen«, sage ich. »Aber deshalb brauchst du dich nicht zu schämen. Als Zwölfjährige verknallt man sich eben schnell. Ich meine, ich habe damals für meinen Englischlehrer geschwärmt.«
»Das ist es nicht.« Claudia knabbert an ihrem Daumennagel. »Ich habe dadurch wieder das Gefühl bekommen, dass ich nicht liebenswert bin. Das ich eine Versagerin bin und immer eine bleiben werde. Es war so schlimm, dass ich sogar überlegt habe, nochmal einen Selbstmordversuch zu unternehmen. Nur damit Dr. Siepers sich schlecht fühlt, weil er mich abgelehnt hat.«
»Wow, das ist heftig.«
»Das hat Mieze auch gesagt. - Autsch!« Claudia zieht ihren Daumen zwischen ihren Zähnen hervor und betrachtet ihn mit verzogenem Gesicht. Er blutet leicht.
»Wer ist Mieze? Eine Freundin von dir?«
»Kann man so sagen.« Claudias Miene erhellt sich wieder. »Sie war meine Psychotherapeutin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine sehr junge Frau, die gerade erst ihren Abschluss gemacht hatte. Sie hat jedem sofort das Du angeboten. Ich habe es ihr wohl besonders angetan und sie kümmerte sich wie eine beste Freundin um mich. Unsere Therapiesitzungen waren total locker und ungezwungen - und ich hatte endlich das Gefühl, dass mich jemand verstand. Also, abgesehen von Dr. Siepers, der ja alles vermasselt hatte.« Claudia drückt ein Taschentuch auf ihren Daumen, um die Blutung zu stoppen.
Ich freue mich, dass die Geschichte eine so gute Wendung genommen hat. Die Sonne steht bereits tief und taucht den ganzen Park in goldenes Licht.
Claudia schaudert. »Mir wird langsam kalt. Willst du vielleicht zu Dr. Siepers und endlich deine Hand untersuchen lassen? Dann wärme ich mich solange in der Cafeteria auf, wenn es okay ist.«
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und stelle mit Schrecken fest, dass es bereits vier Uhr nachmittags ist. »Oh ja, das sollten wir tun. Aber nachher erzählst du mir, wie es weiterging, ja?«
»Klar!« Claudia grinst breit. »Auf der Rückfahrt folgt die Fortsetzung.«

Freche Mädchen küssen besser (GirlxGirl)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt