Kapitel 6 - Wahrheit

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Ich starre traurig auf Ethan und schniefe einmal kurz. Ryder sitzt neben mir und ich spüre seinen durchdringlichen Blick.

"Wir können hier nicht ewig sitzen bleiben. Wir müssen weiter, wenn wir überleben wollen." Höre ich die fordernde Stimme von Ryder in meinem rechten Ohr.

"Dann geh doch weiter. Du wolltest doch eh noch purgen, weswegen auch immer." Während ich rede, weicht mein Blick nicht von Ethan.

Es tut mir so weh ihn da liegen zu sehen. Ich weiß ich hätte nichts tun können, auch wenn wir die Spritze noch hätten. Kopfschuss heißt tot. Das ist mir bewusst. Ich fühle mich trotz allem verantwortlich. Er ist wegen mir in diesem Abteil der Stadt, wegen mir hat er seine Spritze nicht mehr und wegen mir hat er so wenig auf sich selbst geachtet.

"Du willst wissen, weswegen ich purgen will?" Mein Blick hebt sich und ich schaue zu Ryder. "Du vertraust mir nicht genug. Du sagst es mir eh nicht." Meine ich überzeugt und starre in seine braunen Augen.

"Ich vertraue dir, Joanna."

"Wieso?"

"Du hättest mich sterben lassen können... Aber du hast es nicht. Das macht dich zu meiner Bezugsperson und deswegen vertrau ich dir. Du könntest eh nichts mit dem Fakt anfangen. Solange wir hier bleiben, sind wir so gut wie tot." Ryder steht auf und klopft sich den Dreck von der Hose.

Ich stehe ebenfalls auf. "Erzähl es mir." Hauche ich und schaue ihn an.

Ryder blickt etwas verletzt zu mir. "Er war mein Bruder und sie haben ihn getötet. Er war noch so jung. Er hat das nicht verdient." Meint Ryder. Seine Stimme bröckelt immer wieder ab und seine Augen suchen verzweifelt einen Fluchtpunkt.

"Hey..." Flüstere ich und nehme seine Hand in meine. Er starrt auf unsere Hände, die sich bewusst miteinander verschränken.

Als ich merke, dass er nicht weiter reden will, nehme ich sein Gesicht in meine Hände und schaue ihn durchdringlich an.

"Ryder, schau mich an." Meine ich ernst und starre ihn an. "Schau mich an." Wiederhole ich.

Ryders Blick trifft auf meinen. Ich lächle stark, doch mir ist sein trauriger Blick bewusst.

"Ich habe niemanden mehr. Verstehst du? Niemanden. Meine Mutter ist schon lange tot und an diesem Abend wurden auch mein Vater und mein Bruder getötet. Genauso wie Ethan. Was hat es für mich noch einen Sinn zu leben? Aber wie du siehst, stehe ich noch immer hier. Neben dir. Keiner der getötet wurde, hat es verdient. Aber Rache ist bloß ein Gefühl von Hass. Und Hass ist ein schlimmes Gefühl. Schüttel dieses Gefühl ab und belass es dabei, wie es ist. Es würde uns so viel weiter bringen." Beende ich meine kleine Rede und bekomme selbst Tränen in die Augen.

Mir ist durchaus bewusst, dass wir hier von Ryder reden. Es geht um ihn, nicht um mich. Aber ich musste auch genug Leid ertragen. Viel mehr als er.

Meine Hände gleiten von seinen Wangen und ich ergreife wieder seine Hand.

Ryder senkt seinen Blick. "Als ich sagte, es sei wie ein Drang in dieser Nacht draußen zu sein, war das ungelogen. Es war schon immer so. Und das auch vor einem Jahr. Mein Bruder war der festen Überzeugung, mitkommen zu wollen. Ich wollte ihn davon abhalten, aber er hat alles getan damit ich nachgebe. Und das habe ich am Ende auch. Und jetzt fühle ich mich verantwortlich das er tot ist. Er war wegen mir hier draußen, weil er wusste dass ich das immer mache und wollte mit. Ich habe ihn mitkommen lassen und nur deswegen ist er tot. Weil ich nachgegeben habe. Ich hätte ihn zu Hause einsperren sollen. Dann wäre er jetzt noch am Leben." Erzählt Ryder und ihm rollt tapfer eine Träne über die Wange.

Ohne zu überlegen, schließe ich ihn in eine Umarmung, welche er ohne zögern erwidert.

"Es tut mir so leid..." Nuschel ich gegen seine Schulter.

The PurgeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt