Kapitel 02

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Courtesy Call-Thousand Foot Krutch

Ich stehe vor dem Spiegel und erkenne mich nicht mehr wieder. Das Kleid, welches ich die ganze Zeit trug, wurde ausgetauscht durch ein super enges, viel zu kurzes schwarzes Kleid von Lucy, gegen das mein vorheriges tatsächlich aussah, als wollte ich zur Messe gehen. Es ist wenigstens nicht so stark ausgeschnitten wie das, was sie trägt, zeigt dennoch viel mehr Haut, als ich es normalerweise zulassen würde. Nicht mal meine Strumpfhose konnte ich darunter anbehalten, so zart sie auch war, sie hätte sich unter dem Stoff, der wie eine zweite Haut an mir liegt, trotzdem abgezeichnet. Meine Brüste, die eigentlich nicht klein sind, wirken dennoch, als hätten sie nochmal zwei Größen zugelegt, so stark werden sie gepusht. Nicht zu vergessen ist mein Hintern, der noch nie so riesig aussah wie heute, dabei haben meine brasilianischen Wurzeln schon dafür gesorgt, dass mein Po immer ein Hingucker ist. Meine Haare habe ich einfach zu einem hohen Zopf zusammengebunden, bevor Lucy sich auch da etwas Ausgeflipptes einfallen lassen konnte. Dafür ist sie gerade damit beschäftigt, mir ein Make-Up zu verpassen, für das mich meine Eltern mit Hausarrest bestrafen würden. Für sie würde ich aussehen wie ein Flittchen, da es extrem auffällig ist, jedoch erschreckend gut zum Rest meiner Aufmachung passt. Würden sie jetzt in mein Zimmer kommen, wäre der Herzinfarkt vorprogrammiert, ganz besonders aber wäre meine Großmutter schockiert. Gäbe es noch Zuchthäuser, wäre das ihre nächste Anlaufstelle. Ich kann selber schlecht einschätzen, ob mir die Smokey-Eyes und der dunkelrote Lippenstift wirklich gefallen. Ich bin plötzlich eine völlig andere Person. Es ist, als hätte ich mich verkleidet. Ich sehe gar nicht so schlecht aus, fast sexy, wenn ich diesen Kleidungsstil nicht von vornherein verurteilen würde. So kann ich um Himmels Willen niemals auf die Straße gehen und eigentlich habe ich das auch gar nicht vor. Irgendwie hat es Lucy geschafft, mich zu überreden, diesen Spaß hier mitzumachen. Wahrscheinlich war es einfach die Neugier, die mich zu diesem Umstyling umgestimmt hat, doch jetzt, da ich das Ergebnis vor mir habe, will ich nichts lieber, als diese Verkleidung wieder abzulegen. Lucy sieht in sowas vielleicht ganz gut aus, so wie sie das auf ihre eigene Art immer tut, ich wirke hingegen nichts als albern. Ein blinder mit Krückstock würde merken, dass ich das hier nicht bin.
"Und, wie findest du es?" Lucy grinst stolz ihr Werk an, während ich ihre Begeisterung nicht einmal annähernd teilen kann.
"An dir würde es bestimmt toll aussehen, aber das bin ich nicht. Kann ich nicht doch was anderes anziehen?", versuche ich sie verzweifelt zu überreden. Den wochenlangen Klatsch, wenn mich jemand so entdeckt, kann ich mir nur allzu gut ausmalen. Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt bettle, dass ich etwas anderes anziehen kann, denn eigentlich wollte ich das Grundstück nicht verlassen, irgendwie schafft es Lucy doch immer wieder, mich rumzukriegen, obwohl sie den Versuch nicht allzu oft unternimmt, da sie mich in den meisten Fällen so akzeptiert, wie ich bin und das Gleiche mache ich mit ihr.
"Du kannst machen, was du willst, ich wollte dich nur beraten, das ist doch klar. Wir haben deinen ganzen Kleiderschrank durchgekramt und nichts gefunden, womit du heute ausgehen könntest, zumindest nicht dort, wohin ich dich bringen will. So, wie du jetzt aussiehst, bist du einfach perfekt, du musst dich nur mal auf was Neues einlassen." Da hat sie wohl Recht, mit nichts aus meinem Kleiderschrank könnte man auf eine richtige Party gehen, doch bisher hatte ich nie einen Grund dafür, etwas an dieser Situation zu ändern. Ich gehe oft aus, allerdings betrifft das entweder einen romantischen Abend mit Max oder strengere, gesellschaftliche Anlässe. Natürlich besitzt Lucy hingegen genügend Kleider, die zum Feiern geeignet sind, weshalb sie mir eins abgeben kann, ohne dass sie es sonderlich vermissen wird. Es ist ein wahres Wunder, dass ich hinein passe, denn immerhin habe ich ein paar Kurven mehr als sie, aber vermutlich hat es ihr ohnehin nicht mehr gepasst und sie wollte es aussortieren.
"Nur diesen einen Abend. Mach nur diesen einen Abend eine Ausnahme", bettelt sie mich an, während wir mich beide im Spiegel betrachten. Ich kann ihr schlecht widersprechen. Je länger ich mich betrachte, desto wohler fühle mich, desto attraktiver. Ich sah noch nie so sexy aus, aber ist es nicht etwas zu übertrieben? Es ist definitiv zu übertrieben, zumindest für meine Verhältnisse.
"Brich endlich aus deiner Komfortzone aus, hab mal richtig Spaß und lass dich auf was Neues ein. Ich weiß, wie schwer dir sowas fällt, aber es ist an der Zeit, denkst du nicht? Irgendwann sitzt du mit 40 da und bereust, dass du deine Jugend verschwendet hat." Ihr intensiver, stechender Blick lässt mich schnell wegsehen, sonst ergebe ich mich auf der Stelle. Ich verschwende meine Jugend nicht, oder? Ich setze eben andere Prioritäten, aber das ist doch nichts Schlechtes. Oder? Wie schafft es dieses Mädchen nur, dass ich Dinge, von denen ich immer überzeugt war, plötzlich in Frage stelle? Ich kann nicht leugnen, dass ich mich heute zu Tode gelangweilt habe, so kann es mir auf Lucys Party auch gehen. Dann habe ich es ihr bewiesen, sie wird mich nie wieder zu sowas überreden wollen. Und wenn es mir gefällt? Über dieses Problem brauche ich mir kaum Sorgen zu machen, es ist viel zu unwahrscheinlich.
Lucy nimmt sanft meinen Arm in die Hand und dreht mich zu sich herum. Sie ist einfach in allem mein komplettes Gegenstück, das nicht nur charakterlich. Sie ist kleiner als ich, ihre Haut ist weiß wie Schnee und ihre Haare, die sie immer zu einem unordentlichen Dutt bindet, sind entweder hellblond oder weiß, das kommt ganz auf das Licht an.
"Du siehst wunderschön und heiß aus. Bitte komm mit, wo du doch einmal dafür angezogen bist. Die Arbeit darf doch nicht für umsonst gewesen sein."
"Okay." Das Wort entschwindet mir schneller, als ich denken kann. Gleich nachdem ich es ausgesprochen habe, bereue ich es wieder. Ich habe zu wenige Details darüber, wo wir hingehen und kann den Verlauf des Abends gar nicht einschätzen. Ich weiß doch auch gar nicht, wie man sich in Lucys Clubs oder dergleichen verhält, mit was für Leuten ich mich dort abgeben muss. In welche Gegend schleppt sie mich, ist es dort gefährlich? Dieser Abend wird die reinste Katastrophe und ich hasse es, dass ich keinerlei Kontrolle darüber habe, weil ich zu unwissend bin.
"Und wie kommen wir hier unbemerkt raus?", frage ich Lucy, in der Hoffnung, dass sie es bei dem aussichtslosen Gedanken noch abbläst. Aber es ist Lucy, wenn ihr kein Fluchtplan einfällt, wem dann?
"Das ist absolut kein Problem. Hier oben hält sich sowieso niemand auf und die Treppe kommen wir auch ungesehen herunter. Durch Wohnzimmer und Küche können wir nicht." Aber genau dort müssten wir lang, um zur Eingangstür zu gelangen.
"Ganz einfach, wir klettern durch das Fenster im Arbeitszimmer deines Vaters." Ich sehe sie schockiert an. Dieses Zimmer ist so gut wie immer abgeschlossen, ganz besonders, wenn Besuch da ist.
"Das wird schon gut gehen", versucht Lucy mich zu motivieren, doch mir schlägt das Herz bis zum Hals. Das ist die mit Abstand bescheuertste Idee, auf die ich mich je eingelassen habe.
Als wir unten ankommen, ist niemand zu sehen, nur ein paar Stimmen dringen aus dem Wohnzimmer zu uns durch. Als ob wir nicht aufpassen müssten, schlendert Lucy sorglos durch den Flur zur nächsten Treppe. Das Arbeitszimmer meines Vaters befindet sich im Keller, den ich nicht allzu gern betrete. Mein Vater muss ziemlich paranoid sein, wenn er diesen Raum immer abschließt. Wir gehen die letzten Stufen hinab, als hätte ich damit gerechnet, dass wir einfach weiterschlendern können, drücke ich erfolglos die Türklinke.
"Und was jetzt?", flüstere ich Lucy gespielt ratlos zu.
Lucy wirkt nicht überrascht, dass sich die Tür nicht öffnen lässt, ohne zu zögern zieht sie deshalb eine Haarnadel aus ihrem Dutt. Natürlich, was habe ich erwartet?
„Lucy, was hast du da vor?", werde ich leicht hysterisch.
„Beruhige dich, das habe ich von meinem Bruder gelernt, funktioniert ziemlich einfach, wenn man es kann."
„Denkst du nicht, meinem Vater wird auffallen, dass sein Arbeitszimmer nicht mehr abgeschlossen ist? Der macht mir die Hölle heiß!", versuche ich sie noch abzuhalten, auch wenn ich dafür lüge. Er vertraut mir blind und würde mich nie beschuldigen, falls es das überhaupt mitkriegt. Umso furchtbarer fühlt es sich jetzt an, sein Vertrauen so zu missbrauchen.
„Das wird schon nicht schiefgehen und wenn, dann fällt es dir bestimmt nicht schwer, eine Ausrede zu finden. Ob du es willst oder nicht, im Lügen bist du eine Königin." Das ist nicht gerade eine Fähigkeit, auf die ich sonderlich stolz bin, doch gerade in der Schule hat sie oft genug Wunder geleistet, um Lucy aus der Patsche zu helfen.
Wir haben es erstaunlich schnell durch die Tür geschafft, doch da fällt uns auf, welches wichtige Detail wir vergessen haben.
"Da sollen wir durchklettern?", fragt mich Lucy ungläubig und starrt die Fenster an. Es könnte knapp werden, aber es ist nicht unmöglich, dort hindurch zu passen, mal ganz davon abgesehen, dass es eine wahnsinnig blöde Idee ist. Immerhin müssen wir keine Schränke verschieben, was meinem Vater definitiv aufgefallen wäre, da die Schränke alle perfekt platziert sind, um an die Fenster ranzukommen. Ich werfe Lucy einen letzten fragenden Blick zu, doch sie lächelt mich vorfreudig an. Ich werde das hier tatsächlich durchziehen. Ich klettere zu dem geöffneten Fenster herauf. Würde man hier drin nicht den ganzen Tag das Fenster offen lassen, könnte man dank des Gestanks kaum noch atmen. Ich muss mich ziemlich ducken, um mit dem Kopf nicht gegen die Decke zu stoßen und hechte mich mit aller Kraft aus dem Fenster. Zu meiner Überraschung werden meine Arme draußen von zwei Händen ergriffen, die mich herausziehen und wieder auf die Beine stellen. Im ersten Moment bin ich dankbar, dann bekomme ich allerdings Angst, warum mich da jemand anpackt und vor allem wer.
Es ist ein junger Mann, der ganz in schwarz gekleidet ist, mit Haaren, die noch dunkler wirken als meine, obwohl meine Haare schon schwarz sind wie die Nacht. Ich stehe regungslos da, weil ich nicht weiß, was hier vor sich geht. Eines ist zumindest klar: zu den Gästen auf der Feier kann er gar nicht gehören. Was macht er dann an meinem Haus? Der Fremde bückt sich wieder und hilft auch Lucy, dort herauszukommen. Unsere Kleider haben die Tortur problemlos überstanden, womit ich fast nicht mehr gerechnet habe. Und dann passiert etwas, was ich am wenigsten erwartet hätte. Lucy schlingt ihre Arme um den Hals dieses Fremden und beginnt, wild mit ihm zu knutschen. Erst starre ich sie entsetzt an, dann wird es mir jedoch peinlich, zuzusehen. Mir hätte gleich einfallen können, dass dieser mysteriöse Kerl zu Lucy gehört. Er scheint zumindest äußerlich perfekt zu ihr zu passen, doch zu genau kann ich ihn mir nicht ansehen, da ich es äußerst unangenehm finde, den beiden bei ihrer Orgie zuzusehen. Lucy ist sowas im Gegensatz zu mir niemals peinlich, dafür hält sie mich und Max für prüde und meint immer, dass wir doch nicht mehr im 19. Jahrhundert leben. Als sie schon so lange knutschen, dass ich beinahe denke, sie haben vergessen, dass ich auch da bin, räuspere ich mich und die beiden lassen endlich voneinander ab.
"Vic, das ist Ben und er wird uns jetzt zu einer tausendmal besseren Party bringen." Wenn ich diesen Ben so ansehe, werde ich noch skeptischer, wohin sie mich verschleppt. Seine Tattoos und Piercings sehen jedenfalls nicht so aus, als würden wir einem Kaffeeklatsch beiwohnen wollen.
Trotz besseren Wissens setze ich mich auf die Rückbank von Bens Auto und frage mich zum hundertsten Mal an diesem Abend, was in mich gefahren ist. Ich sitze mit einem Punk und meiner durchgedrehten Freundin in einem Auto auf dem Weg zu einer Party, von der ich weder weiß, wo sie stattfindet, noch was für Leute sich dort aufhalten. Ich muss genauso völlig durchgedreht sein, anders lässt sich das nicht erklären, niemals würde ich mich sonst in das Auto eines Fremden setzen. Gut, wenigstens ist dieser Fremde Lucys Freund, den sie aus irgendeinem Grund bis heute vor mir verheimlich hat. Ich weiß nicht einmal, welche Ausrede Lucy für meine Eltern parat hatte, dass sie uns gehen ließen. Wüssten sie von meinem Plan, stünde bald ein Termin beim Psychotherapeuten an.
Irgendwann verlassen wir das Viertel, aus dem ich stamme und fahren in Richtung Innenstadt. Ich bin überrascht, dass wir dort auch Halt machen. Ich habe eher mit einem Gangsterviertel oder etwas Ähnlichem gerechnet. Vielleicht sollte ich aufhören, so früh ein Urteil über die Situation zu fällen. Ben wirkt nun nicht unbedingt wie ein Gangster und mit seinem Lächeln erscheint er mir sogar relativ sympathisch.
Die beiden führen mich zu einem Haus, das verlassen und etwas heruntergekommen aussieht. Jetzt erhöht sich mein Herzschlag doch wieder. Was haben wir in einem leerstehenden Mehrfamilienhaus zu suchen? Gehören sie einer Sekte an und das hier ist irgendein komisches, geheimes Ritual mit anschließender Fetischparty, von dem niemand etwas mitbekommen soll? Langsam mache ich mir Sorgen um meine beste Freundin, was wahrscheinlich auch der Grund dafür ist, dass ich nicht sofort davonrenne. Falls hier irgendwas Schräges abgeht, lasse ich sie nicht allein.
"Hey, vertrau mir, okay?", versucht Lucy meine Skepsis aus dem Weg zu räumen, trotzdem ist mir sehr mulmig zu Mute, als wir das Haus betreten. Je weiter wir gehen, desto mehr beschleicht mich das Gefühl, dass ich diesen Ort nicht mehr lebendig verlassen werde. Das Haus ist von innen gar nicht so verkommen, wie man von draußen meinen mag und der Flur ist sogar schwach beleuchtet, aber gerade stark genug, um zu erkennen, wo man hintritt. Von irgendwo höre ich gedämpfte Bässe...Moment, hier wird doch nicht wirklich gefeiert, oder?
"Was ist das hier?", will ich endlich von Lucy wissen. Ich flüstere allerdings so leise, damit ihr mysteriöser Freund nichts mitbekommt, denn noch bin ich mir nicht sicher, ob ich ihm vertrauen kann.
"Das, mein Schatz, ist der coolste Club der Welt. Hier kommen wirklich nur Leute aus der Szene her, weil niemand sonst Bescheid weiß. Du hättest doch auch niemals erwartet, dass hier drin was ist. Geniale Idee, nicht wahr?" Lucy scheint wahnsinnig begeistert, während ich nicht glauben kann, dass man hieraus einen geheimen Club gemacht hat. An sich hat die Idee tatsächlich einen gewissen Charme, allerdings ist es trotzdem kein Ort, an dem ich etwas verloren habe. Wie sie schon sagte, kommen hierhin nur Leute aus der Szene, welche Szene das auch immer sein mag.
Wir gelangen zu einer Tür, vor der ein muskulöser Kerl platziert ist, der das Türsteher-Image perfekt verkörpert. Ich fasse es nicht, dass die aus dem Club so eine Show machen und komme mir vor wie im falschen Film. Als er den Punk sieht, nickt er ihm zu und öffnet die Tür. Als ich an ihm vorbeilaufe, wirft er mir nur einen fragenden Blick zu. Will er denn gar nicht unsere Ausweise kontrollieren? Okay, ich muss zugeben, dass ich gerade heute nicht so aussehe, als sei ich noch minderjährig. Wir müssen eine Treppe hinunter, die besser beleuchtet ist als der Flur, sonst wäre ich vermutlich runtergefallen, was die Situation nur noch verschönert hätte. Natürlich befindet sich dieser Club im Keller, damit konstruiere ich ein immer absurderes Bild der Leute, die sich hinter der nächsten Tür befinden, als wir unten ankommen.
Und schon bin ich das erste Mal in meinem Leben in einem Club und kann nicht fassen, dass es ausgerechnet dieser ist. Sobald ich hineintrete, dröhnt mir die Musik so laut in den Ohren, dass ich mir sofort total verloren vorkomme.
Nachdem der erste Schock überstanden ist, wirkt die Musik doch nicht mehr so unerträglich laut und ich kann endlich erkennen, was da aus den Lautsprechern kommt. Irgendein Rocksong, zu dem die Masse hier tatsächlich tanzen kann, auch wenn der Tanzstil mancher äußerst merkwürdig aussieht.
In meiner Fantasie bestand die Inneneinrichtung aus Särgen, die Wände waren rot und manche waren als Vampire verkleidet. Wenigstens das hat sich nicht bewahrheitet, im Gegenteil, die Wände sind grau gehalten, wie fast alles hier, bis auf die roten Sitzecken. Ich kann mir noch nicht eine Meinung über das Ganze bilden. Viele der Gäste sehen aus wie dieser Ben, was den Kleidungsstil betrifft, manch einer sieht etwas mehr nach dem aus, was ich als Goth bezeichnen würde, doch welchem Stil sie auch zuzuordnen sind, fast jeder trägt Tattoos. Das wäre für meine Familie ein Ort des Grauens und die Leute aus meiner Schule würden gar nicht aufhören können, sich das Maul zu zerreißen.
Plötzlich stelle ich mit Erschrecken fest, dass wir auf eine Sitzecke mit 4 anderen Leuten zulaufen, die genauso perfekt hier hinein passen wie Ben und Lucy. Immer wieder muss ich mir in den Kopf rufen, dass ich nicht anders aussehe und gar nicht so auffalle, wie ich es mir die ganze Zeit einbilde. Lucy steuert immer schneller auf diese Leute zu und fällt einem nach dem anderen um den Hals. Mir versetzt es einen leichten Stich, dass sie mit ihnen so vertraut umgeht, ich bisher allerdings noch nie von der Existenz dieser Freunde wusste. Normalerweise haben wir keine Geheimnisse voreinander, doch heute scheint nichts mehr normal zu sein.
"Aufgepasst Leute, ich darf euch heute Vic vorstellen, meine beste Freundin, die ich endlich überreden konnte, mich zu begleiten." Alle vier Augenpaare mustern mich und sehen mich dabei misstrauisch an. Wahrscheinlich erkennen sie trotz meiner Aufmachung, dass ich hier der totale Außenseiter bin. Ein zierliches Mädchen mit pastellblauen Haaren setzt schnell ein Lächeln auf und umarmt mich fröhlich, ganz entgegen meiner Erwartungen. Ich bin solch eine Herzlichkeit gegenüber Unbekannten nicht gewohnt und finde ihre Umarmung daher zunächst befremdlich, aber immerhin wirkt sie nett und scheint mich willkommen zu heißen.
"Ich bin Sara. Freut mich, dass Lucy dich endlich überreden konnte. Sie hat öfter von dir erzählt und ihre Freunde sind auch meine Freunde." Als mich Sara wieder aus ihren Armen entlässt, beschließe ich, dass sie ganz in Ordnung ist und ich ihr eine Chance gebe. Ein großer, schlaksiger Kerl mit knallrot gefärbten Haaren begrüßt mich zwar nicht ganz so offenherzig, hat aber eine Ausstrahlung, die mich vermuten lässt, dass ich auch ihn ganz okay finden könnte. Und ich war fest davon überzeugt, nur auf Unfreundlichkeit zu treffen, dabei mache ich mir langsam Gedanken, ob nicht vielleicht ich diejenige bin, die ein bisschen netter sein könnte.
"Hey, willkommen in unserer bescheidenen Runde. Ich bin Tom." Er schüttelt mir zum Glück nur die Hand, schenkt mir aber das sympathischste Lächeln, das mir je unter die Augen gekommen ist, sein dunkler Eyeliner kann das nicht verstecken.
"Die beiden Turteltauben dort sind Ana und Josh", erklärt mir Lucy und zeigt auf ein wild knutschendes Pärchen. Ich habe das Gefühl, dass die beiden vergessen, dass sie nicht in einem Schlafzimmer sind. Wenn sie so weitermachen, laufen sie Gefahr, aufgrund Erregung öffentlichen Ärgernisses angezeigt zu werden. Mir ist es wahnsinnig unangenehm, weiter zuzuschauen, also wende ich mich Lucy zu. Ich wüsste sowieso nicht, was ich anderes tun sollte, sie stellt hier für mich eine Art Anker dar, an den ich mich die ganze Zeit klammern muss. Ich komme mir völlig fehl am Platz vor, wenn ich mich umsehe, daran können bis jetzt weder die Freundlichkeit der anderen noch mein Outfit etwas ändern. Ich war noch nie an einem Ort wie diesem. Ich kann nur hoffen, dass es sich im Laufe der Zeit zum Besseren entwickelt, sonst wird es die reinste Qual und ich hätte doch lieber weiter auf meiner Feier die Grashalme zählen sollen.
Ich betrachte meine Umgebung und muss mich zurückhalten, um nicht aufzulachen, wie schnell sich meine Umgebung verändert hat. Worauf habe ich mich eingelassen?

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