Kapitel 1: Der kurze Geschmack der Freiheit (Part 2 )

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Da war ich nun: Nach wochenlangem Frondienst, der mir fast wie zwei meiner kostbaren Jahre meines Lebens vorkam, endlich wieder auf freiem Fuß. Ich konnte es gar nicht glauben. Zwar hatte ich mir seit dem unglücklichen Tag, als mein Ex-Trainer mich überwältigt hatte, nichts sehnlicher gewünscht, als das ich endlich wieder die Freiheit genießen könnte, aber wirklich daran geglaubt, dass dieser Tag tatsächlich kommen würde, hatte ich nicht. Doch es war tatsächlich eingetroffen. Der knisternde Scherbenhaufen meines ehemaligen Gefängnisses war der beste Beweis dafür. Ich spürte den Schwall der Emotionen, der meinen Körper durchflutete. Noch immer konnte ich mein Glück kaum fassen. Frei. Endlich wieder frei.

Nun hieß es nur noch, den Weg zurück in die Heimat zu finden. Wer wusste, was alles während meiner Abwesenheit in meinem Revier passiert war? Wie viele knallvolle Mülltonen nur darauf warteten, endlich wieder von mir auf den Kopf gestellt zu werden? Und wie viele der armen Irren bereits meine territorialen Ansprüche in Frage stellten? Das Problem an der ganzen Geschichte war allerdings, dass ich nicht die leiseste Ahnung hatte, wo ich eigentlich war. Mein Ex-Trainer hatte ja schließlich nicht die Freundlichkeit, mich Zuhause abzusetzen. Aber das war im Grunde ja überhaupt kein Problem. War ich doch schließlich nicht irgendwer. Überall kannte man meinen Namen und würde nur darauf brennen, mir einen Gefallen zu erweisen. Vielleicht würde ich mich sogar herablassen, ein paar Autogramme zu geben.

„<- Route 38“, las ich auf einem Schild. 
Dummerweise muss ich eingestehen, dass ich nie richtig lesen gelernt habe. Warum auch? Zum Mülltonnen durchwühlen hat er bisher immer gereicht. Solange man nicht farbenblind ist, und gelb (njam, njam, njam) von blau und weiß (Pfui deibel) unterscheiden kann, braucht man in der friedvollen Wildnis nicht lesen zu können.
„Achtunddreißig...“, schoss es mir durch den Kopf. 
Zumindest das konnte ich erkennen. Nur Achtunddreißig was?
Das einzige, was ich mir in diesem Moment vorstellen konnte war, dass man eben Achtunddreißig Schritte in die Richtung des Pfeils machen musste, um zum Nationalpark, der ja schließlich das Zentrum der Welt war, zu kommen. Ich lief also zum Schild und zählte meine Schritte sicher in die Richtung des Pfeils ab. 
„Eins, Zwei, Drei,...“
Auf halbem Weg stoppte ich jedoch plötzlich abrupt ab. 
Achtunddreißig Schritte? Aber welche Fußgröße? Vielleicht Menschenfußgröße? Oder vielleicht doch eher Taubsisprünge? 
Aber im Grunde war es ja egal. Einfach weiter und immer der Nase lang. Irgendwann würde ich sicherlich Zuhause ankommen.

Meine Pfoten führten mich also immer weiter nach... irgendwohin. Auf jeden Fall immer in Richtung des Pfeils. Der musste den Weg schließlich kennen. Solch ein wichtiger Ort wie der Nationalpark würde ja schließlich selbst über Abermilliarden von Schritten ausgeschildert sein.
Während ich so nichtsahnend in meinen Gedanken schwelgte, blieb mir plötzlich und ohne Vorwarnung die Luft weg. Irgend etwas schnürte sich auf einmal um meine Kehle und hielt mich fest. Ich versuchte mich verzweifelt davon, was auch immer es war, zu befreien, doch umso heftiger meiner Versuche waren, umso mehr und mehr fiel mir das Atmen schwerer.
Erst jetzt warf ich einen Blick über die Schultern. Doch zu meiner großen Verwunderung war da niemand. Stattdessen bemerkte ich, dass sich beim Vorbeigehen eines dieser albernen Bändchen an meinem Hals in dem struppigen Geäst verfangen hatten.
Laut fluchend versuchte ich mich von dem Wirrwarr von Ästen und Zweigen zu befreien und endlich diese dämlichen Schleifchen und Bändchen von meinem Körper zu reißen. Doch vergebens. So sehr ich mich auch bemühte, ich konnte mich nicht befreien.

„Nun komm schon!“, tobte ich und machte dabei ruckartige Bewegung, um loszukommen. 
„Haha! Nein, wie putzig“, lachte plötzlich eine Stimme hinter mir und ließ mich, wenn auch nur leicht, erschaudern.
Ich warf einen raschen Blick über die Schultern. Ein grünliches Pokémon mit Blättern an beiden Armen und gut und gern einen Meter groß, stand feixend hinter mir und genoss offensichtlich jede Sekunde meiner Unbeholfenheit. Seine gelben Augen hatten mich scheinbar fest im Visier.
„Was glotzt du so blöd?“, blaffte ich ihn an. „Für Autogramme habe ich jetzt denkbar wenig Zeit. Also mach dich dünn.“
„Was macht denn jemand so aufgeblasenes wie du ausgerechnet in einer Gegend wie hier?“, höhnte der grünliche Fremde.
„Blöde Frage. Wie sieht es denn aus? Ich häng hier einfach nur so rum“, antwortete ich ihm angriffslustig.
Der Unbekannte näherte sich mir langsam. Was hatte er vor? 
„Wie niedlich“, feixte er erneut. „Hast dich wohl verlaufen und suchst jetzt verzweifelt deinen Trainer? Vielleicht rufst du etwas lauter um Hilfe, damit er kommt und dich in deinem lächerlichen Aufzug abholt.“
„Das geht dich einen feuchten Waumpeldreck an. Sieh zu, das du Land gewinnst, sonst haue ich dich kurz und klein!“, entgegnete ich ihm und versuchte erneut, mich verzweifelt von meiner prekären Lage zu befreien.
Der Fremde wusste allem Anschein nicht, mit wem er es zu tun hatte, sonst hätte er mir längst geholfen oder aber sich längst aus dem Acker gemacht. Nun aber stand ich ihm bloßgestellt und mit ungedeckten Rücken gegenüber. Er würde garantiert die Situation schamlos ausnutzen und mich vor allen zur Schau stellen. Mein Ruf wäre noch ruinierter, als er es jetzt schon war.
„Nein bitte, lass mich dir doch helfen“, spottete er.
Ich wollte ihm noch zurufen, dass ich auf seine armselige Hilfe auch gut und gern verzichten kann, doch da war es bereits zu spät. Ein plötzliches Aufblitzen seiner scheinbar rasiermesserscharfen Blätter an seinen beiden Armen war das Letzte, was ich noch bildlich von ihm wahrnahm, bevor sich eben diese in mein Fleisch bohrten und meinen Körper mit grauenhaften Schmerzen durchfluteten.

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Pflicht und EhreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt