Kapitel 3: Eine Frage der Ehre (Part 2)

1 0 0
                                    

Meine Pfoten trugen mich zielsicher über ein weites, nebelumzogenes Feld. Das mir kniehoch stehende Gras streifte sanft meine Beine, während meine Schritte mich zielsicher nach Osten führten. Immer dem Licht des Sonnenaufgangs entgegen. Der frühe, herzliche Morgengruß der Taubsi schallte durch die weite Ebene vor mir und beschleunigte reflexartig meine Schritte.
Mein Ziel klar vor Augen, kam mit jedem meiner weiteren Schritte immer näher, das spürte ich. Und tatsächlich! Meine Schritte stoppten abrupt. Der Puls wurde schneller und die Augen weiter. Mein ganzer Körper begann zu kribbeln. Nach gefühlten Jahre der Wanderschaft, hatte ich es geschafft: Die schier unendlichen Weiten des Nationalparks, meiner Heimat, erstreckten sich vor meinen Augen. Schöner, als ich ihn jemals in Erinnerung hatte. Mit seinen Blumenbeeten, dem ruhigen und entspannenden Plätschern des monströsen Springbrunnens, den scheinbar bis zum Himmel reichenden Grashainen, den steilen und schroffen Felsklippen und natürlich nicht zuletzt die vom Schein der Morgensonne in allen Regenbogenfarben strahlenden prall gefüllten Mülltonnen. Ich war zuhause. Ich war zuhause. Mein ganzer Körper erbebte vor tiefster Zufriedenheit, während mein Blick über meine Heimat streifte. Eine Träne des puren Glücks rann mir stumm über die Wangen.
Ich sog noch einige Sekunden lang die Bilder des puren Glückes in mich hinein, bevor mich meine Beine auch schon instinktiv in Richtung meines Heimes trugen.

So lief ich unbeirrt und mein Ziel fest vor Augen meiner Heimat entgegen. Doch die Minuten verstrichen ereignislos und ohne, dass sich der noch viel zu weit entfernte Nationalpark auch nur einen Schritt zu nähern schien. Ich beschleunigte meine Schritte. Immer schneller...
Ich rannte bereits schneller als der Wind und doch wollte meine Heimat einfach nicht näher rücken. Im Gegenteil: Stattdessen schien sie sich immer weiter vor mir zu entfernen.
Mein Herz begann vor Verzweiflung zu rasen. Was war da los? Warum konnte ich ihn nicht erreichen, den Ort meiner Geburt? Den Ort des Glücklichseins?

Meine Ohren begannen erregt zu kribbeln. Ein unheilbringendes Surren weit hinter mir schien sich von Sekunde zu Sekunde zu nähern. Konnte ich es wagen, auch nur einen Augenblick über die Schultern zu blicken? Ich hatte mir geschworen, ihn nie wieder aus den Augen zu verlieren. Meine Heimat. Doch meine unbändige Neugier war stärker als dieses mir selbst gemachte Versprechen.
„Nur für einen kurzen Augenblick", dachte ich. „Nur für eine Sekunde, nicht mehr..."
Mit diesen Gedanken in meinem Kopf, riskierte ich einen kurzen Blick hinter mich.

Augenblicklich stellte sich mir das Fell zu Berge. Angstschweiß breitete sich sekundenschnell über meiner Stirn aus und mein ganzer Körper schien vor Entsetzen wie festgefroren. Das Bild des puren Grauens kam mit jedem weiteren meiner Atemzüge immer näher: ein gigantischer, fürchterlicher, von Menschenhand geschaffener Pokéball, näherte sich unheilvoll meiner Position.
Ich musste fliehen. Zurück in den Nationalpark. Zurück in meine Heimat. Doch meine Beine schienen wie mit Blei besohlt zu sein. So sehr ich es auch versuchte. So sehr ich auch kämpfte: ich konnte mich nicht mehr bewegen.

Das schaurige Surren hinter mir wurde immer lauter. Mein Puls begann zu rasen. Wie ein Trommelfeuer pochte mein Herz gegen meine Brust und fügte mir bereits stechende Schmerzen zu.
„Nein!", brüllte ich verzweifelt, als der Pokéball nur noch einen Wimpernschlag von mir entfernt war. „Nein!"
Mit aller Kraft versuchte ich mich erneut seinem Einfluss zu entziehen, doch vergebens. Ich spürte bereits wie der packende Wirbel mich erfasste und mich in die endlose Leere hineinsog.
Die Bilder meiner Heimat verblassten langsam vor meinem inneren Auge, als ich mich abermals in pechschwarzer Dunkelheit schwebend, im Inneren meines Gefängnisses wiederfand.

Ein unerwartetes Knallen, ließ mich plötzlich jäh aufschrecken. Statt der ewigen Dunkelheit eines Pokéballs, blickte ich plötzlich von meinem Krankenbett aus auf die blanke weiße Zimmerdecke meines Raumes. Jemand hatte wohl vor wenigen Sekunden die Zimmertür etwas unachtsam geschlossen und mich so unbeabsichtigt aus meinen Alpträumen befreit.

Pflicht und EhreWo Geschichten leben. Entdecke jetzt