Fünf

23 3 0
                                    

Das Hotelzimmer war groß und geräumig. Auf einer alten Kommode lag die verblichene Karte mit den Dienstleistungen des Hotels. Neben ihr stand ein Strauß aus weißen und gelben Rosen, das einzige, das an dem ganzen Zimmer neu war. Die hässlich grüne Tapete mit den gelben Blumen wirkte wie aus einem anderen Jahrhundert. Genau wie das restliche Hotel. Ja, selbst die Angestellten. Die staubigen, rosengeblümten Vorhänge wehten im leichten Wind der offenen Fenster. Das angrenzende Bad war mit weißblauen Kacheln gefliest und sie würden sich alle hineinquetschen müssen, denn es passte gerade einmal eine Person hinein. Es war ganz und gar nicht luxuriös. Eher wirkte es schäbig, alt und heruntergekommen. Aber natürlich hatte es einen Grund, dass sie hier waren.

»Bald ist Evolet. Das weißt du?« Jada stellte mit einem beachtlichen Schwung ihren riesigen, türkisfarbenen Koffer auf das Bett mit dem bleichrosa Bettbezug, das darauf mehr als nur protestierte, sondern auch weit unter dem Gewicht nachgab.

»Was ist das?« Zora krabbelte auf ihr eigenes Bett am anderen Ende des großen Raumes und sprang darauf herum. Ein ächzender, jammernder Protestschrei war von dem Bett zu vernehmen, das immerhin standhielt. »Was ist Evolet? Mum?« Sie musste laut sprechen.

Jada warf Avyn einen vielsagenden Blick zu.

Avyn ignorierte ihn, genau wie er es schon den ganzen Tag mit ihr tat. Er durfte sie nicht ansehen, es würde nur schmerzen. Die Schatten hatten schließlich schon Blut geleckt und waren hungriger denn je. Aber er musste es aushalten. Und das Evolet war, machte es nicht einfacher. Nur schlimmer. Viel schlimmer. Und sie brauchten sich nicht vor Marcus und die anderen verstecken. Hier waren sie alleine. Nur Zora war da. Aber das würde keine allzu große Gefahr darstellen. Zora war genau wie ihre Mutter. Nur kleiner. Pummeliger. Lockiger.

Jada schüttelte langsam den Kopf. Ihr Blick glitt über die spärliche Ausstattung. Kommode mit Vase und Karte. Schrank mit drei Türen und genauso vielen Schubladen. Drei Betten. Links an der Wand zwei. Rechts hinten am Fenster das letzte Bett, das sich schon Zora reserviert hatte. »Wenn du möchtest, kann ich es dir zeigen, meine Süße.«

»Nein!« Avyn fuhr heftig herum, als er das Bild mit dem unheimlich, abstrakten Motiv betrachtete. »Das wirst du nicht!« Er fixierte sie. Hielt sie fest mit seinem Blick. Jada war so überrascht – das merkte er mit jeder Faser seines Körpers – dass sie sich nicht dagegen wehren konnte. Wehren gegen Avyns durchdringlichen Blick, der sie gefangen nahm und ihr jegliches Denken entwendete. Es war ein schwarzer Blick. Schwarz wie die Nacht. Wie seine Seele. »Das kannst du ihr nicht antun, ... Jada!« Er spuckte die Wörter vor ihr auf den Boden und trat darauf herum. Zum ersten Mal hatte er die Macht. Er könnte sie töten. Aber Zora war hier. Zora sah zu. Dem seltsamen Spiel der Gezeiten. Dem verebbenden Leben ihrer Mutter. Der flutartige Sturm, der sich über Avyn legte und ihn emportrug auf seinen Schwingen. Hoch in die Luft bis er größer war als jeder Dämon. Als jeder Engel. Er sah ihr Blut. Er konnte es hören. Wie es rhythmisch in ihren Adern pulsierte. Schnell. Rot. Heiß. Er sah den Dolch in seiner Hand, der so schwer war wie eine blankpolierte Stecknadel. Er könnte sie töten. Er würde sie töten. Er musste es tun. Sonst würde ihre Rache grausamer sein, als alles zusammen. Als das Leid der Welt zusammen. Sie waren im dunklen Reich. Die Schatten umwarben sie. Und Avyn war ihr Herrscher. Er konnte sie kontrollieren. Er hetzte sie auf Jada. Auf ihr warmes, pulsierendes Blut.

»Wie ist das? Jada! Und gefällt dir das?«

Stille.

»Ist es nicht unglaublich toll? So unglaublich schön?«

Avyns Stimme verklang. Verschluckt von dem Schwarz um sie herum. Wind zerzauste seine Haare. Er bekam eine Gänsehaut.

Jada sah ihn mit flehenden Blick an. Die Schatten umschlossen ihren Hals. Drohten sie zu ersticken. Ein einziger roter Tropfen bannte sich seinen Weg hinab aus der Nase auf ihre Oberlippe. Ein hellroter Fleck auf ihren dunkelroten Lippen. Sie keuchte und japste lautlos nach Luft. Aus ihrer Kehle drang kein Laut. Ein einsames Tier in den letzten Sekunden ihres jämmerlichen Daseins.

Der Name deiner KinderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt