Sechs

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Roland ließ sich in das von der Sonne gewärmte Gras sinken. Er hörte sie bereits kommen. Die Hexe und die Anführerin. Sie strichen durch das hohe Gras. Sie gaben sich keine Mühe leise zu sein. Er wusste, dass sie nicht jagen wollten. Sie wollten etwas anderes. Nur was, das konnte er noch nicht sagen.

»Zeig mir den Platz von Avyn.« Die Kleine forderte. Und ihre Stimme war beinahe schon befehlend.

Die Hexe schüttelte den Kopf und schob sie weiter vorwärts. »Das kann ich nicht. Es ist Avyns Platz. Er muss ihn dir zeigen. Du musst dir schon deinen eigenen suchen.«

»Und das kann überall sein?«

»So fern dich niemand sieht, ja.« Jada holte tief Luft.

Roland erkannte, dass sie in gewisser Weise mit Stolz erfüllt war. Welche Mutter sah ihre Tochter nicht gerne schwarze Rituale ausführen. Roland schmunzelte. Seine Mutter hätte ihm dafür den Hals umgedreht. Aber das konnte sie schon lange nicht mehr. Er hatte sie gehen lassen müssen. Verwirrt und doch mit einer gewissen Akzeptanz war sie für immer gegangen. Sie war keine Jägerin gewesen, also hatte sie auch nicht in den Bund der Unsterblichen gehört. Aber das war auch besser so. Er hätte es auch nicht gewollt. Er spürte, wie die Erinnerungen zu ihm kamen. Ihn umkreisten und mit ihm zu spielen versuchten. Aber das ließ er nicht zu. Er drehte sich auf den Bauch und schlich hinten ihnen her. Wie eine Raubkatze auf der Jagd. Heute würde er zwar kein Glück haben, aber interessant war es allemal. Wann ging die Hexe denn schon mit der Anführerin durch die Gräser um einen Ritualplatz zu suchen. Für dieses kleine Mädchen mit der blonden Lockenmähne.

»Muss ich mir eine Platz suchen? Warum kann ich es nicht gleich hier machen?«

Jada betrachtete ihre Tochter mit einem nachdenklichen Blick. »Du bist keine von denen, Schatz. Du bist nicht dieser Abschaum. Du bist eine von uns. Von den Guten.«

»Sag doch einfach, dass ich zu den Birkenheads gehöre. Nach dem allersten Unsterblichen John William Birkenhead. Ihr hasst die Fawcetts und die Southeys, weil sie anders sind als ihr – wir. Blablabla. Das weiß ich doch längst. Ich habe euch belauscht. Und beobachtet. Ich weiß, wie ihr seid. Wie wird sind. Wir und der Abschaum. Aber wäre es nicht viel besser und vor alldem einfacher, wenn wir ebenfalls Abschaum wären? Wenn wir zu den Southeys gehörten? Wir wären nicht gebunden. Wir könnten tun und lassen, was wir wollten und doch brauchen wir uns nie Gedanken über unser Geheimnis zu machen.«

»Zora!« Jada packte sie heftig am Arm und riss sie herum. Ihre Finger krallten sich fest um den Arm und sie fletschte die Zähne. Sie war mehr als nur wütend. »Wärst du nicht du, dann würde ich dir diesen dummen Gedanken aus dem Kopf schlagen. Aber das werde ich nicht. Aber merke dir eines, Mädchen, vergleiche uns niemals, niemals wieder mit dem Abschaum. Du wirst nie wieder ihren Namen nennen, noch behaupten, dass es besser wäre, einer von ihnen zu sein. Die sind Abschaum. Alle zusammen. Ob sie jetzt mehr oder weniger so sind wie wir, sie sind Abschaum. Verstanden?«

Roland konnte ihre Faust zittern sehen. Sie war so unglaublich wütend. Ihr Sklave läge bereits zerschlagen am Boden. Aber ihr Sklave war nicht die Anführerin. Er sah, dass Zora nur nickte. Sie war trotzig. Sie hatte keine Angst. Sie hatte in gewisser Weise nur darauf gewartet. Sie verfolgte ihren eignen, kleinen Plan. Und das machte sie nur noch sympathischer. Sie schien es nicht zu stören, dass sie Abschaum sein wollte.

Er schüttelte den Kopf. Die Kleine hat echt das Zeug für eine Anführerin, dachte er respektvoll. Wahrscheinlich war sie viel schlauer als er gedacht hatte.

»Gut. Dann gehen wir dir jetzt einen Platz aussuchen.« Sie ließ ihre Tochter los.

»In Ordnung.« Zora lief voran. Die Hände in den Taschen ihres Rocks gestopft. Ihre Mähne wehte im seichten Sommerwind.

Der Name deiner KinderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt