Neun

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Er hatte Glück. Unfassbares Glück.

Gerade hatte er mit Nevaeh Tee in der Krankenhauscafeteria getrunken. Vor wenigen Minuten. Und jetzt war die Welt golden. Schimmerte wie tausende Goldsplitter in der Sonne.

»Du kannst es noch immer nicht glauben, oder?« Sanft legte Nevaeh ihre Hand auf seine.

Er schüttelte den Kopf. Nein. Konnte er nicht. Viola hatte ihm tatsächlich erlaubt Evolet zu umgehen. Er brauchte sich all die schrecklichen Szenen nicht ansehen. Er konnte mit Nevaeh ein Film sehen. Tee trinken. Kekse und Chips essen. Er konnte machen, was er wollte. Das war unfassbar. Er konnte sich nicht einmal an sein letztes freies Evolet erinnern. Wahrscheinlich gab es das nicht einmal. Das war so unglaublich. Jahrelang hatte er sich zwei Mal im Jahr alles antun müssen, was dazugehörte. Er selbst hatte Rede und Antwort stehen müssen. Und tauchte sie auf – in ihrer Menschengestalt – und erließ ihn. Er hatte ihr genug gedient. Er hatte Ana, Avyn, Zora und Nevaeh bis heute beschützt. Bis Evolet. Heute würde sie sich um alles andere kümmern. Er hatte zum ersten Mal frei. In seinem ganzen Leben. Und am liebsten würde er sich seine Freundin schnappen und mit ihr ans Ende der Welt fahren, über den Horizont hinaus und noch viel weiter. Aber es ging nicht. Er sollte hierbleiben. Hier im Krankenhaus. Man, sicher waren sie hier. Aber glücklich nicht. Sie schliefen in getrennten Zimmern. Sie konnten kaum etwas unternehmen. Und andauernd sollten sie den Ärzten Fragen beantworten. Wegen Avyn, der heute Nacht aufgewacht war und dem es so ziemlich am dreckigsten ging. Seine Schusswunde war noch nicht richtig verheilt. Er hatte Schmerzen. Er hatte eine ziemlich heftige Gehirnerschütterung noch. Aber das war ihm alles egal. Er wollte zu Averie. Averie Mikael – wie er immer wieder murmelte.

Roland wusste schon jetzt, dass er ihm diesen Wunsch erfüllen würde. Noch vor dem Mittag würde sie hier sein und mit ihm reden können. Und dann heute Nacht würde Viola trotzdem ihren Tribut fordern. Dass sollte er ihm ebenfalls ausrichten. Einen Tribut, von dem er nicht glaubte, dass Avyn ihn zahlen konnte.

Und Ana, Ana hatte ebenfalls von Viola Besuch bekommen. Sie acht Wochen, damit Avyn sich wieder in sie verliebt, sonst würde sie zurück in Jada verwandelt werden. Acht Wochen, damit sie um ihre Liebe kämpfen konnte. Aber dass er das tat – dass sich Avyn wirklich in sie verlieben würde – dass bezweifelte nicht nur Roland. Er hatte zwar keine Ahnung, was vorher vorgefallen war, aber so wie Avyn Ana angesehen hatte, wusste er, dass Avyn sie hasste. Abgrundtief. Verzweifelt schon. Ana erzählte manchmal von Ciel. Aber Ciel und Ana waren Geschichte. Jada und Avyn – das war was ganz Anderes. Und egal, wie Jada aussah, sie würde immer Jada bleiben. Da konnte ihr vierzehnjähriges, unschuldiges Aussehen nichts mehr retten.

Denn Averie war wirklich entzückend und Avyns große Liebe. Nur ob Jada / Ana das jemals einsehen würde, war anzuzweifeln.

Roland seufzte leise. »Ich kann es wirklich nicht glauben. Ich freue mich. Aber ich verstehe es nicht. Sie war noch nie zu großzügig.« Er warf ihr einen funkelnden Blick zu.

Nevaeh verschränkte ihre Finger mit seinen. »Was ist Evolet eigentlich?«

Einen Moment schwieg er wieder. Sah die Bilder. Sah Viola, die unzertrennlich noch mit Evolet verbunden war. Seine Stimme war rau und kalt, als er wieder sprach. »Evolet ist ... « Er stockte noch einmal, bevor er ihr fest in die Augen sah. »Ein Opferfest. Jeder Jäger muss ein Opfer bringen.«

Nevaehs Augen weiteten sich. Vor Schreck.

Er wünschte, er könnte ihre Gedanken lesen. Aber das konnte nur eine. Er drückte kurz ihre Finger. »Was denkst du?«

Sie öffnete den Mund. Klappte ihn zu. Macht ihn wieder auf. Als sie sprach, brach ihre Stimme. »Menschen?« Am Ende nur noch ein Hauch. Ein Hauch von Stimme.

Der Name deiner KinderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt