Zehn

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Marcus hatte nicht damit gerechnet. Ganz und gar nicht. Nicht damit, dass Avyn und Nevaeh plötzlich in seinem Schlafzimmer standen. Nicht damit, dass sie ihn eiskalt und schweigend ansahen. Und erst recht nicht damit, dass es ihm einen Stich versetzte, Avyn so fertig zu sehen. Er quälte sich. Und sein Vaterverstand wollte sofort zu ihm und in den Arm nehmen. Aber sein Körper konnte sich nicht rühren. Er war geschockt und von seiner eigenen Dummheit übermannt worden. Wie hatte er nur dem Jäger glauben können? Er hatte Zweifel gehabt und doch war die Freude alleine mit Romy und Noam zu sein stärker als alles andere. Wie hatte er nur so dumm sein können? Aber jetzt war es zu spät.

Avyn stand da. Nevaeh stand da. Sie sahen ihn an. Eiskalt. Sie verzogen keine Miene.

Marcus hatte keine Ahnung, was sie vorhatten. Und er hatte nicht einmal die Kraft nachzudenken. Er wollte früh ins Bett. Morgen wollten sie schließlich schon um sechs Uhr los. In den Urlaub. Morgen am ersten Ferientag. Wie blöd von ihm, sich in Sicherheit zu wiegen. Es war zu schön gewesen. Diese eine Woche. Diese wenigen Tage. Jetzt musste er den Preis dafür zahlen. Und er hatte – verdammt noch mal – nicht die leiseste Ahnung, welcher das sein würde.

Seine Stimme war lauter, als er gedacht hatte, dennoch schnitt es ihm den Hals zu. »Was wollt ihr?«

Ein Lächeln huschte über die Lippen seiner Kinder.

»Weißt du« Avyn wechselte einen undeutbaren Blick mit seiner Schwester. »Es ist alles deine Schuld. Alles. Wirklich alles. Aber ich habe in mir noch ein Fünkchen Liebe für dich.« Das Lächeln verschwand wieder. »Und genau das ist dein Pech.«

»Ein ziemlich großes Pech.« Nevaeh machte einen Schritt auf ihn zu.

Avyn verschränkte einen Moment die Arme vor der Brust. Löste sie wieder. Lockerte sie. »Du hättest mich fester schlagen sollen. Aber mal zu etwas Anderem. Weißt du, was Evolet ist?«

Marcus schluckte. Nein. Er hatte keine Ahnung. Aber dieses Verhalten machte ihm Angst. Seltsamer Weise. Er war derjenige, der Angst verbreitete. Nicht seine Kinder. Sie hatten nicht einmal das Recht sich so zu verhalten. Er wollte sich wehren. Sie anschreien. Ihnen zeigen, dass er stärker war. Es ihnen beweisen. Aber er rührte sich keinen Millimeter. Er war einfach nur ... geschockt.

»Nein?« Avyn nickte Nevaeh vielsagen zu. Und im gleichen Moment, als er sagte: »Das lernst du es jetzt kennen!«, zog sie Marcus einen Schlagstock über den Schädel.

Er erinnerte sich für einen Moment daran, wie er Avyn zum ersten Mal gegenüberstand. Wie klein und niedlich er war. Wie einsam und verlassen. Er war noch so jung gewesen.

Dann wurde um ihn herum alles schwarz und er spürte nichts mehr.

Avyn zuckte zusammen. Blut lief aus einer Wunde an Marcus Kopf. Es fiel ihm schwer, so zu tun, als wäre er der Harte. Der Böse. Denn das war er nicht. Ganz und gar nicht. Für einen Moment wurde ihm schlecht. Er klammerte sich an den Bettpfosten und presste sich die Hand an den Magen.

»Du bist bleich.« Nevaeh ließ den Schlagstock einfach achtlos fallen. Besorgt zog sie die Augenbrauen zusammen. »Vielleicht sollten wir ... «

»Doch!« Entschlossen straffte Avyn die Schultern und packte seinen Vater an den Füßen. Nevaeh griff seine Arme. Zusammen trugen – schleiften war der bessere Ausdruck – sie ihn nach unten. Nach draußen. Roland half ihnen von da an. Sie brachten ihn zu Avyns Ritualplatz.

Mit jedem Schritt pochte sein Herz schneller.

Das Gras war bereits feucht. Die Sonne untergegangen. Im Wald war es so düster, dass Roland ihre Schatten leuchten ließ, damit sie etwas sahen. Nur Marcus' Schatten glomm so schwach, dass es kaum wahrnehmbar war.

Der Name deiner KinderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt