Als ich endlich in der Bibliothek ankam war es schon nach halb sechs und ich war zu spät.
Und das alles nur wegen meiner geliebten großen Schwester, die es anscheinend mal wieder nötig gehabt hatte mich zu ärgern und die Unterlagen für die Bücherei mit sich durch die Stadt zu tragen - und mich wie eine Verrückte hinterherspringen zu lassen.
Ganz im Ernst: würde ich nicht bei ihr wohnen und hätte sie nicht die Unterlagen gehabt, dann hätte ich mir das niemals bieten lassen.
Niemals!
Versuchte ich mir zumindest einzureden.
Was, je länger ich darüber nachdachte, immer unwahrscheinlicher wurde.
Nun gut, ich konnte schlecht nein sagen, zugegeben, aber gehörte es nicht zum Menschsein, freundlich zu seinen Mitmenschen zu sein? Auch wenn die es nicht für nötig hielten selbiges selbst zu tun?'Was du nicht willst, was man dir tut das füg auch keinem andern zu', das war das, was unsere Mutter uns als erstes beigebracht hatte.
Na gut, als zweites, nachdem sie uns das mit den Augen erklärt hatte.
Aber was war da bei Laya schiefgelaufen? Manchmal war sie echt fies.Ich stieg, immer noch grübelnd, die Stufen zur großen Eingangstür der städtischen Bibliothek hinauf und betrat durch die Glastür das Gebäude - meinen Lieblingsbereich der Stadt. Ich liebte die Bibliothek.
Sie war das, was ich als Heimat betrachtete.
Große, braune Regale, randvoll gefüllt mit Wissen in Form von Büchern. Verzweigte Gänge mit versteckten Sitzmöglichkeiten und hohen hellen Fenstern, die die vertäfelten Räume in einem angenehmen hellbraunen Ton schimmern ließen. Und Deckenmalereien, die ihre ganz eigenen Geschichten erzählten.
Eine ruhige, herzliche Atmosphäre, die niemand stören wollte oder konnte.
Es war ein Ort für sich - ein Ort inneren Friedens.
Und heute, genau heute würde mein Traum wahr werden.Ich lief zum Verleihtresen, wo Andie ihren obligatorischen Kaffe trank - typisch.
Sie war das optimale Beispiel für einen Kaffeejunkie. Nichts funktionierte ohne eine Tasse dieses Gebräus, das meiner Meinung nach einfach nur widerlich schmeckte.Für Andie war es ein Lebenselixier.
Es war so wichtig, dass sogar im Büro, das man hinter dem Verleihtresen durch eine altmodische Holztür betreten konnte, eine Kaffemaschine stand.
Ungelogen.
Andie hatte sie extra gekauft.Jetzt schaute sie auf und sie strahlte mich mit ihren blitzend weißen Zähnen.
Da sollte noch mal jemand behaupten, dass Kaffeetrinken hässliche Zähne machte.
So ein Quatsch."Catherine", rief sie, sprang auf und winkte sogar. "Lässt du dich auch mal wieder blicken!"
Alles klar.
Sie war gut drauf und in Plauderlaune. Das würde noch eine lange Nacht werden.
"Hey Andie", erwiederte ich fröhlich, jedoch nicht so aufgedreht. Sie trank wirklich zu viel Kaffee.Andie packte mich und drückte mich einmal fest, ehe sie mich loslies und wieder ihren Platz am Computer einnahm.
Mein Zeitpunkt.
Ich holte den Umschlag aus meiner Tasche, für den ich lange gekämpft hatte und hinter dem ich eine gute halbe Stunde hinterher gerannt war und übergab ihn ihr glücklich.
Endlich.
Andie riss den Umschlag auf und überflog das Dokument.
Dann besah sie die hart erkämpften Unterschriften und begann zu grinsen."Nicht schlecht Catherine", sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen, sodass ich einschlagen konnte. "Du hast es wirklich geschafft!"
Fast schon bewundernd klopfte sie mir nun auf die Schulter.
"Also dann", Andie machte eine kleine Kunstpause "Wilkommen im richtigen Team"
Ich schlug ein und es fühlte sich verdammt gut an.
Ich war Teil des Bibliothekteams und das war das einzige, was zählte. Dafür würde ich noch tausende Male durch die Hölle gehen.
Wir gingen ins Büro und Andie gab mir meine T-Shirts, auf denen das Bücherlogo aufgestickt war. Meine neue Arbeitskleidung.
Endlich! Schon seit Monaten half ich hier aus. Meine Eltern hatten das Formular einfach nicht unterschreiben wollen, sie waren der Meinung gewesen, dass ich lieber lernen sollte. Wäre es nach ihnen gegangen, würde ich selbst Nachts noch Hausaufgaben machen und Verben konjugieren. Aber das war nicht ich. Ich wollte einfach arbeiten. Schließlich hatten wir uns darauf geeinigt, dass ich das Abitur machen fertig machen würde - was ich eigentlich sowieso vorgehabt hätte - und in dieser netten Bibliothek aushelfen durfte.
Jetzt mit diesem Vertrag wurde ich sogar endlich dafür bezahlt.Andie warf mir einen Schlüsselbund zu. "Sei so gut und hol die Lieferung, Catherine, Schätzchen", sagte sie und tippte auf der Tastatur des Computers herum. "Fach Nr. 7". Dann griff sie wieder nach ihrem Kaffee. In einer blauen Schäfchentasse.
Kopfschüttelnd zog ich meine Jacke aus, hängte sie an den Haken und platzierte meine lästige Schultasche in dem Fach unter der Kasse, wie immer. Dann ging ich um Lager, das sich im Flur, direkt neben der Glastür befand.
Manchmal konnte ich es nicht glauben, dass ich den Schlüssel dazu bekam, auch in den Wochen als Aushilfe nicht. Schlüssel bedeutete Verantwortung - etwas, was ich bei meinen Eltern nie bekommen hatte. Aber ich liebte das Gefühl wichtig zu sein. Es war, als würde mich die Welt brauchen, als wäre ich nicht nur ein Mensch von vielen, als wäre ich nicht nur Catherine.
Ich schloss auf und holte einen Karton aus dem Regal ganz links. Er war schwer. Keuchend schleppte ich ihn zu Andie und holte den nächsten. Alles Neuerscheinungen. Etwas neidisch starrte ich die viereckigen Kisten an. So viele Schätze.
Anschließend holte ich noch die Bücher aus dem Antiquariat und die aus anderen Büchereien, die hierher verlegt wurden.
Dann machte ich mich daran die Kartons zu öffnen, während Andie Kunden und Besucher bediente. Das war wirklich nett von ihr, sie wusste, wie gern ich Bücher auspackte und etikettierte. Völlig in meiner Welt gefangen stempelte ich und schrieb.Die meisten Titel sagte mir nichts, aber es war immer wieder ein Freudemoment, in dem ich die Aufregung schlagartig bis ins Herz spürte, wenn ich ein Buch kannte und schon gelesen hatte. Der Adler der neunten Legion. Der Herr der Ringe. Wilhelm Tell. Ein Herzschlag danach. Harry Potter. Obsidian. Glücksmomente in meinem Leben, die wieder zum Vorschein kamen. Und jeder bedeutete die Welt für mich.
Als das geschafft war, schlug die Uhr bereits sieben und ich machte mich daran, die Bücher ins System einzutragen und sie auf einen der vielen Wägen zu legen.Andie dagegen packte zusammen. Sie würde nun ihre Tochter von der Musikschule abholen, wie ich wusste. Lynn war ein Goldschatz. Und ich sprang gern für Andie ein, bei der ich auch manchmal Babysittete. Sie winkte mir zum Abschied noch einmal zu und verschwand erstaunlich lautlos durch die Tür.
Nur noch wenige Besucher streiften durch die Gänge, die meisten waren gegangen bevor es dunkel geworden war. Clever von ihnen. Nur ein alter Mann geisterte durch die Gänge und eine Gruppe von Studenten standen diskutierend vor der Medizinabteilung. Wenn ich es richtig verstanden hatte ging es um Lymphknoten. Faszinierend.
Manchmal kam ich mir vor wie in einem Buch - wie klischeehaft.
Geht ja nicht raus, dort lauert die Gefahr. Das Schwarze, das Böse, das Geheimnisvolle, das niemand kennt. Die Menschen mit schwarzen Augen. Ich war davon überzeugt, dass etwas davon stimmte.
Es gab immer etwas Wahres an Gerüchten. Auch an diesem musste etwas stimmen.
Nur was?
Wieviel stimmte und was war gelogen? Hatte die Presse recht mit dem was sie sagte? Verübten die Schwarzen wirklich zahlreiche Morde? Waren die alten Geschichten wahr, die blutigen Geschichten der Zeit?
Was genau war bei den Schwarzen anders? Nur die Augenfarbe? Oder lief in ihrem Gehirn etwas schief, das sich auf die Augenfarbe auswirkte? Fragen über Fragen. Und ich wusste keine Antwort.
DU LIEST GERADE
Eyes
RomanceAugen. Nur Teile des menschlichen Körpers? Eine Gesellschaft, in der Augen eine andere Bedeutung haben. Eine Gesellschaft, in der jeder weiß, dass sie den Charakter zeigen. Auch ich bin mit diesem Wissen aufgewachsen. Was ist richtig, was falsch...