Chapter Five

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Andies Gesichtsausdruck war  nicht deutbar, als ich endlich mit nicht nur einer halben Stunde Verspätung, sondern mit dreißig zusätzlichen Minuten klitschnass und durchgefroren durch die Tür gestiefelt kam.
Allerdings hatte sie zum Glück zu tun, sonst hätte sie mir wohl mehr als einen strengen Blick zugeworfen. Andie war zwar nett und ich verstand mich wirklich gut mit ihr, aber wenn es um ihren Job ging war sie knallhart. Sie war für mich verantwortlich. Gefeuert hätte sie mich sicher nicht, aber dennoch. Ich sollte schleunigst meinen Wecker reparieren.
Ich schälte mich aus den nassen Schichten, auch Klamotten genannt, holte mir aus dem Büro eine Flasche Wasser und setzte mich damit ans Verleihtresen, nachdem Andie mit einem Kunden ins Büro gegangen war. Schienen wichtige Gespräche zu sein.

Die nächste Stunden vergingen im Eiltempo. Abstempeln, Ausweise erstellen, verleihen, scannen, beraten und aufräumen wechselten sich ab, ich kam nicht einmal dazu etwas zu trinken. Samstags war hier immer viel los, viele Studenten nutzten das Wochenende um nochmals richtig zu pauken.
In den Ecken, an den Tischen und in den Nischen saßen sie, lernend, verzweifelnd, manchmal sogar schlafend. Alleine, in Gruppen und pärchenweise. Sie waren zahlreich vertreten. Vor allem in Medizin, Rechtswesen und Literatur.
Die Literaturstudenten waren mir die liebsten. Sie waren ziemlich die einzigen, mit denen man richtig sprechen konnte.
Sie ignorierten mich nicht, sondern stellten auch Fragen.
Wen der Jurastudenten interessierte es, was ich vom Gesetz hielt? Niemanden.
Über Macbeth, Hamlet und Faust zu diskutieren stand dazu im krassen Gegensatz.

Gegen halb elf näherte sich Herr Schmidt meinem Platz. Er war ein pensionierter, ergrauter Lehrer, der früher einmal hauptsächlich Biologie unterrichtet hatte.
Jetzt, da er im Ruhestand war, nutzte er seine Zeit, indem er las und sich vor allem engagierte.
Auch mit ihm führte ich so etwas wie Freundschaft, manchmal lud er mich zum Kaffee ein. Dann redeten wir über Gott und die Welt, er war auch der einzige, den ich kannte, der sich tierisch aufregte, wenn man etwas negatives über schwarze Augen sagte. Herr Schmidt war geradezu besessen von dieser Sache.
Er recherchierte und recherchierte, schrieb Bücher und leitete Aktionen, er setzte sich für Menschen mit schwarzen Augen ein.
Dafür bewunderte ich ihn.

"Weißt du Catherine", sagte er immer, "Nur weil ihre DNA ein kleines bisschen anders als unsere ist, denken wir, dass wir sie benachteiligen können. Ich bin froh, dass du das wenigstens verstehst."
Und ich verstand. Nur für wichtig erachtet hatte ich das alles eigentlich bisher nicht.
Bis jetzt.
Vielleicht sollte ich ihm von den Begegnungen erzählen.
Ich grinste ihn an und er lächelte mit seinem Großvaterlächeln um den großen Bücherstapel, den er trug, herum.
Wirklich erstaunlich, dass er überhaupt noch Bücher fand, wo er doch jede Woche die Bibliothek plünderte. Ächzend hob er seine Beute auf den Tresen und plumste auf den Stuhl daneben.
"Catherine", lächelte er und kniff in meine Wange. "Fleißig wie immer! Jetzt sogar offiziell, wie ich sehe."
Er deutete auf das T-Shirt und automatisch setzte bei mir Freude ein. Er hatte es bemerkt!
"Ja! Endlich!", sagte ich und begann die Büchercodes einzuscannen. "Übrigens habe ich noch etwas für dich." Ich holte die Neuerscheinung hervor, die ich gestern extra für ihn herausgelegt hatte.
"Die Geschichte der Augen", murmelte Herr Schmidt und begann den Klappentext zu lesen, während ich weiterscannte und eine Tasche für ihn holte. Extra schon vorbereitet.
Herr Schmidt gab mir das Buch zurück. "Pack es mir auch ein", sagte er und ich tat wie geheißen. "Ach übrigens", fuhr er fort, "wenn du Lust hast kannst du morgen zum Kaffee kommen. Ich bekomme ein paar Gäste, die für dich sicher auch interessant sind."
Fast schon geistesabwesend schaute er ins Leere und ich beschloss die Einladung anzunehmen.
Insgeheim hatte ich so etwas schon erwartet.
Und außerdem hatte ich dann endlich die Gelegenheit ihm von den Begegnungen zu erzählen.
"Gerne", sagte ich daher und reichte ihm die übervolle Tasche. "Schaffst du das alleine?"
"Ja klar", sagte er und sein Gesichtsausdruck wechselte von besorgt zu amüsiert. "Du denkst wirklich an alles, Catherine. Aber ganz so alt bin ich nun wieder nicht."
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen hob er die Tasche und winkte mir zum Abschied zu.

Bis zur Mittagspause dauerten Andies Gespräche. Ich versuchte herauszufinden, worum es ging, aber sie gab keine Antwort. Das einzige, was sie von sich gab war ein: "Mach Pause!" Nicht mal ein Kommentar zu meiner Verspätung.
Da gab ich es auf und setzte mich in den hintersten Winkel der Bibliothek, mit Zeit zu leben und Zeit zu sterben in der Hand.
Pausen sollte man schließlich nutzen und ich wollte unbedingt wissen, ob Graeber überlebte.
Ich kuschelte mich neben ein Bücherregal, schlug das Buch auf und versank - in der Welt des zweiten Weltkrieges. In einer zerbombten Welt voller Hoffnungslosigkeit.
Insgeheim verglich ich sie mit unserer. Was hatten wir für ein Glück! Alles was wir brauchten stand uns bereit. Aber dennoch.
Frieden gab es wohl nirgends so richtig.
Nachdenklich blickte ich zum Fenster hinüber und wurde abrupt aus meinen Gedanken gerissen. Denn dort lehnte er - der Typ aus der Unterführung.

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