Kapitel 5

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Die Mittagssonne blendete Coralia und ließ sie schützend eine Hand vor ihre Augen halten. Sie beschloss heim zu kehren, um das Essen für ihre Familie vorzubereiten. Auf dem Weg nach Hause überkam sie ein mulmiges Gefühl. In ihrem Nacken spürte sie kalten Atem. Mit einer schnellen Drehung sah sie um sich, doch sehen konnte sie niemanden. Der Wind ließ die Blätter rascheln, durch die hohlen Baumstämme war ein lautes Jaulen zu vernehmen. Coralias Schritte wurden schneller, mit jedem Atemzug verspürte sie eine neue Gefahr, die auf sie lauerte, nur darauf wartend, dass Coralia in diese Falle tappen würde. „Ich habe keine Angst", redete sie sich selbst ein, seufzte und atmete tief ein. Die Luft roch in diesem Abschnitt des Waldes nach fauligem, vermodertem Fleisch, sie konnte nicht mehr zählen, wie viele Leichname sie hier schon entdeckt hatte. Obwohl es helllichter Tag war und die Sonne geradezu auf ihre Haut prallte, fühlte sie sich unwohler als sonst. Etwas war anders als gewohnt.
Ein plötzlicher Regenschauer ließ Coralia aus ihren Gedanken aufschrecken und schleunigst die letzten Meter durch den Wald laufen. Sie musste durch eine schmale Gasse am Hafen gehen, welche höllisch nach vergammelten Fischresten stank.
Gern hielt sie sich dort nicht auf, sie mied das Meer nach der Hinrichtung ihrer Mutter, wobei sie sich als Kind nichts Schöneres als das glitzernde Blau vorstellen konnte.

Warum ihre Mutter damals so grausam getötet wurde, hatte sie nicht verstanden. Sie wurde Zeuge, wie sie ihrer schönen Mutter Charlotte Steine um die Knöchel ihrer Füße und Arme banden und sie ins Meer beförderten. Coralia hatte bitterlich geweint, bei dem Anblick ihrer sinkenden Mutter, denn Charlotte war alles für sie gewesen. Nicht nur eine Mutter, sondern auch eine beste Freundin. Zusammen hatten sie ihre Geheimnisse geteilt und lustige Reime erfunden, ihre Haare geflochten, ihnen verging dabei nie das Lachen. Charlotte hatte das schönste Lächeln, das Coralia je erblickte. Um ihre türkisfarbenen Augen machten sich kleine Lachfalten breit, welche sie nicht älter aussehen ließen, ganz im Gegenteil, es machte sie wunderschön. Verehrt hatte sie Charlotte, von ganzem Herzen. Sie war einzig und allein ihre liebste Mutter gewesen.

Eines Tages kam Grace auf die Welt. Sie war ebenfalls wunderschön, ihr langes braunes Haar war seidig glatt und glänzte in der Sonne, ihre braunen Augen verrieten ihre Gutmütigkeit und Treue, sie hatte allerdings mehr Ähnlichkeit mit ihrem Vater, Joseph. Grace und Joseph verband das Gesicht der Unschuld, beide wirkten schüchtern. Joseph war nicht immer unschuldig gewesen, das hatte er selbst zugegeben, Grace hingegen war die lieblichste Gestalt, die Coralia nach ihrer Mutter kannte. Auch die dritte Tochter, Serena, war eine Schönheit. Ihr Gesicht war zart wie das einer Porzellanpuppe. Weiche Gesichtszüge wurden von ihrem weißen Haar umrandet, die stechend grünen Augen übten eine starke Anziehung auf jeden aus, der in sie hineinblickte. Coralia fand, dass Serena ihrer Mutter am meisten glich. Nicht vom Äußeren, nein, Coralia hatte die meiste äußerliche Ähnlichkeit, das gleiche rote Haar, die elfenbeinfarbene Haut, Serenas Charakter aber war dem ihrer Mutter ebenbürtig. So viele schöne Momente hatte sie mit ihrer Mutter und ihren Schwestern erlebt, sie sehnte sich nach dieser Zeit. Früher war sie unbeschwert gewesen und hatte sich immer geborgen gefühlt. Das änderte sich schlagartig mit dem Tod ihrer Mutter. Ihr Leben ging den Bach herunter: ihr Vater, der zum Alkoholiker wurde und sich in die Besinnungslosigkeit gesoffen hatte und die Beklommenheit ihrer Schwestern, die nicht recht wussten, wie sie mit all dem umgehen sollten. Coralia verspürte Wut. All das war nicht gerecht.

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