„Schnell, Lia, sieh her!"
Serena zupfte an Coralias Rockzipfel, Grace neben ihr in Aufruhr, wild gestikulierend, als Coralia das Essen der Kinder zubereitete.
„Was ist denn los, Serena?" In Coralias Worten lag ein spärlicher Hauch von Interesse.
„Dort draußen, siehst du es denn nicht? Die Männer, sie sehen verschreckt aus, wo ist Vater?" Graces Stimme überschlug sich mit jedem Buchstaben. Joseph war wie gewohnt nicht anzutreffen, vielleicht hatte er es heute geschafft, sich zur Arbeit zu schleppen, fest stand, dass Coralia bald für eigenes Geld aufkommen musste, sonst würden sie und ihre Schwestern noch verhungern. Das Gehalt ihres Vaters reichte lange nicht mehr, um genügend Vorräte einzukaufen, vorausgesetzt, Joseph verdiente etwas, denn seine Gegenwart im Hafen wurde immer sporadischer. Coralia lief auf die Fensterläden zu, um hinaus zu spähen und sich ein Bild des Geschehens zu machen. Vor ihr erbrach sich ein Strudel voller Seemänner. Aufgebracht und hektisch stürmten sie geradewegs auf ihr Haus zu. Einer der Männer öffnete seinen Mund zu einem Schrei, fiel jedoch eine Sekunde später zu Boden und regte sich nicht mehr. Eilig raffte Coralia ihren Rock und machte sich auf den Weg zur Tür.„Was hast du getan, Hexe!" Ein alter Mann mit grauem Haar und nur einem Auge wollte einen Fuß in den Türspalt stellen, um Coralia zu folgen, doch sie war schneller und schlug ihm die Türe vor der Nase zu. Benommen berührte er seine Stirn und trat einen Schritt zurück, hinter ihm eine Schar anderer Seemänner.
„Coralia? Bitte mach doch den Eingang auf, hör nicht auf den alten Hauren, du weißt doch, er hat zu viel gesoffen, lass mich hinein, Liebes."
Sie erkannte die Stimme eines alten Freundes.
Will war es, der nie schlecht über ihre Mutter oder sie geurteilt hatte. Er war ein Freund der Familie gewesen, lange Zeit, bis ihr Vater alles verdarb und sich nur noch Feinde auf den Hals hetzte.
„Was wollen die Männer, Will?" Coralia öffnete langsam einen Spalt der Eingangstür um zu sehen, ob der Einäugige sich erhoben hatte. Zu ihrer Erleichterung befand er sich noch immer auf dem Boden.
„Der Einäugige will dich verwünschen, alle anderen wollen euch warnen." Seine Stimme klang ruhig und glaubwürdig.
„Warnen? Wovor?" Gekonnt übertönte sie ihre Angst mit Gelassenheit.
„Es ist etwas Schreckliches passiert in Paladria, Coralia." Sein Blick wanderte zu Boden.
„Was willst du mir damit sagen, Will?" Allmählich fing Coralia an zu erblassen, bei dem Gedanken, dass sie sich gewünscht hatte, etwas Neues würde passieren.
Will räusperte sich und warf einen Blick durch die Diele, er blieb an Grace und Serena haften.
„Bring deine Schwestern hier weg. Sie müssen nicht von dem mitbekommen, was ich dir nun erzählen werde."
Coralia nickte und bucksierte ihre Schwestern in ihr Dachgemach, Grace sträubte sich jedoch sehr dagegen.
„Ich bin jetzt vierzehn, Lia, warum darf ich nicht mitreden?" Coralia sah in Graces wutentbrannte Miene.
Es stimmte, denn ihre kleine Schwester wurde bald erwachsen, entsprach dem üblichen Heiratsalter und würde wohl nicht mehr allzu lange bei ihrer Familie wohnen bleiben. Sie war einem jungen Matrosen versprochen worden, welchen sie mit größter Hingabe liebte. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als endlich ein neues Leben zu beginnen. Coralia konnte es ihr nicht verübeln, sie hatte schließlich keine schöne Kindheit gehabt. Charlotte hatte sich zwar um alle Kinder gekümmert, doch war ihr Liebling stets Coralia gewesen.
„Du hast doch Will gehört, es geht euch noch nichts an und solange ich auf euch aufpasse, tut ihr, was ich sage."
DU LIEST GERADE
Siren
FantasíaNachdem ihre Mutter der Hexerei angeklagt und auf den Grund des Meeresboden versenkt wurde, lebt Coralia mit ihren Schwestern und ihrem Vater allein in Paladria. Ein Land, dem das Wissen der verborgenen Welt verwährt wurde. Noch. Denn es droht Krieg...