Kapitel 3

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Bald hatte sie den Fluss erreicht, er lag dort in völliger Stille, zu vernehmen war nur das leise Rauschen des Wassers, welches flussabwärts seinen Lauf nahm. Sie kniete sich nieder, direkt auf die Wildblumen, die überall am Ufer des Flusses sprießten. Gekonnt wusch sie die Wäsche ihrer Familie sauber und hängte sie anschließend an der Eiche auf, die mit ihren knorrigen Ästen in der Dunkelheit schon vielen Wanderern einen Schrecken eingejagt hatte. Für Coralia war dies ihr Rückzugsort, sie fühlte sich mehr als wohl, allein und verlassen hier ihre Zeit zu verbringen, denn der Ort erinnerte sie an ihre Mutter.

Früher hatte sie oft mit Coralia hier gesessen und ihr Geschichten über die ‚Engel jenseits des Himmels' erzählt, sie war der festen Überzeugung, schon einem begegnet zu sein. Die alten Schauermärchen der Seemänner und Fischer erklommen in ihr ein mulmiges Gefühl. Sie versuchte sich selbst einzureden, es wäre nur Seemannsgarn, aber ein Teil in ihr hatte immer an die düstere Seite des Wassers geglaubt, egal wie sehr sie die See liebte. Ihre Mutter war vom Wasser besessen gewesen. Für sie waren die Bestien bloß harmlose Wassermenschen, die ihr keinen Albdruck verursachten. Seefahrer berichteten von betörend singenden Sirenen, die plötzlich an einem Ufer oder gar mitten auf der See auftauchten. Sie besaßen engelsgleiche Stimmen, die jeden, der ihnen lauschte, ins Verderben stürzte. Elendig ertrunken, auf den Grund des Meeresbodens gezogen durch die Verlockung der Sirenen. Der Oberkörper wie der einer Jungfer, doch der Unterleib besetzt mit Fischschuppen. Diese Vorstellung hatte sich schon längst in Coralias Kopf eingebrannt, vor sich sah sie eine bildhübsche Frau mit langen, wellenden Haaren, überzogen mit glitzernden Perlen und Muscheln. Mit einem Fischschwanz, der so funkelte und leuchtete, wie die Schaumkronen des Meeres in der Nacht, angestrahlt durch den Mondschein.

Trotzdem nahm sie sich in Acht, denn nicht nur Männer verfielen der atemberaubenden Schönheit von Stimme und Gestalt, auch Frauen wurden magisch angezogen. Gelockt wurden sie durch das Versprechen, das die Sirenen ihnen gaben: selbst zur schönsten Frau zu werden und die wahre Liebe zu finden. Coralia jedoch hielt nicht viel von Liebe, es war ihr ebenso ein Märchen wie die Geschichten der Sirenen. Sie hatte gewusst, dass ihre Eltern sich liebten, ihr Vater hatte alles für ihre Mutter getan, sie auf Händen getragen und ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Auch wenn ihre Mutter ihren Vater liebte, so liebte sie jemand anderen heimlich noch mehr. So sehr sie es verstecken wollte, Coralia erkannte es in ihren Augen. Als Coralia noch ein kleines Mädchen war, sang ihre Mutter ihr jeden Abend ein Schlaflied vor, vorausgesetzt, Coralia würde es niemand anderem vorsingen. Sie hatte nicht verstanden warum, doch sie hörte auf ihre Mutter, es war ihr beider Geheimnis. Sobald ihre Stimme erklang fühlte sich Coralia geborgen und sicher, eine Leichtigkeit umgab ihren Körper, als würde sie auf den Wellen des Meeres davon schwimmen. Sie konnte sich an jeden einzelnen Vers des Liedes erinnern, die Stimme ihre Mutter hallte immer noch in ihrem Ohr wider, wenn sie alleine am Fluss saß.

„Die Loreley dort sitzet,

kämmt allein ihr gold'nes Haar.

Ein Seemann kommt ihr näher,

nur ein Opfer ihrer Schar.


Sie singt und winkt ihn zu sich,

ihr Lächeln wirkt ganz starr.

Der arme kleine Seemann

wusst gar nicht wer sie war.


Oh Seemann brauchst nicht fürchten,

dein Blick nur ruht auf mir.

Musst meine Sehnsucht stillen,

bleibst immerfort dann hier.


Im Banne kam er zu ihr,

sie einen Kuss ihm gab.

Zog ihn mit sich in die Tiefe,

dort der arme Seemann starb."

Die Melodie des Liedes hatte ihr immer gefallen, sie versuchte sich selbst im Singen und ihre Stimme hatte den gleichen hellen Klang, wie die ihrer Mutter. Heimlich sang sie ihr Lied am Fluss, wenn niemand sie hören konnte. Der Fluss, in dem sie ihre Wäsche wusch, mündete ins Meer, das Coralia seit Kindertagen liebte. Oft kam sie nicht her, es war ihr zu viel Rummel, die ganzen Fischer und Seemänner, die am Hafen ihr Unwesen trieben – unter diesen auch ihr eigener Vater – die betrunken ihre Seemannslieder grölten, nachdem sie aus der Dorfschenke rausgeworfen wurden. Sie versuchte auch ihre kleinen Schwestern von dort fern zu halten, doch sie waren beide so neugierig gewesen und eines Abends dort alleine hingelaufen. Coralia hatte sie wie eine Verrückte gesucht, kroch in jede Nische ihres Hauses, bis sie zu dem Schluss kam, ihre Schwestern würden am Hafen herumlungern. Ihre Vermutung hatte sich bestätigt, kurz darauf sah sie Grace und Serena auf einem großen Stein im Wasser sitzen, ihre Füße baumelten im kalten Nass und ihre Gesichter waren deutlich rot – sie hatten zu lange in der Sonne gesessen. Behutsam nahm sie beide an die Hand und bahnte sich einen Weg durch das Getümmel. Männeraugen blieben an ihr haften, sie hatte wahrlich ein schönes Gesicht und auch ihr Körper entzückte die Männer. Trotzig marschierte sie an der Menschenmasse vorbei, den Blick starr nach vorn gerichtet. Es war einer dieser Tage gewesen, an dem sie ihren besten Freund nur zu sehr brauchte. Obwohl er so oft zu ihr heimkehrte, war es nach ihrer Ansicht einfach zu wenig. Ein paar Tage ohne ihn und ihr Herz brannte vor Schmerz. Coralia brauchte Eric mehr als jeden anderen Menschen, seit ihre Mutter nicht mehr für sie da war. Er fing sie auf und flickte ihr zerbrochenes Herz, heiterte sie mit den fantastischsten Geschichten der Seemänner auf, die sie je hörte. Er arbeitete auf einem Schiff und war deshalb oft weit entfernt von Coralia, er reiste um die halbe Welt und brachte ihr jedes Mal eine kleine Erinnerung an die verschiedensten Städte mit.

Sie setzte sich auf einen Baumstumpf, lauschte dem leisen Plätschern und hielt ihre Finger ins Wasser. Es glitzerte und glänzte in der aufgehenden Sonne, dass Coralia ihren Blick gar nicht mehr abwenden wollte. Sie erinnerte sich daran, wie es gewesen war im Meer zu schwimmen, ein unglaubliches Gefühl der Schwerelosigkeit umhüllte ihren Körper und sie wünschte sich einfach nur fort, raus auf die See. Gern wollte sie einmal zusammen mit Eric einen Tag auf hoher See verbringen. Sie kannte die Gezeiten besser als die Wochentage. Die Gelegenheit bat sich bisher jedoch nicht, sie war erst siebzehn und somit nicht berechtigt, alleine zu segeln, sei es mit einem Freund oder einem Seefahrer, sie durfte lediglich Passagierschiffe betreten. Coralia war noch nicht verheiratet, obwohl dies sehr untypisch war, denn alle Mädchen die sie kannte waren bereits mit vierzehn vermählt gewesen. Sie hatte den Willen ihres Vaters bisher gebrochen und sich dagegen gesträubt, denn sie hatte keine Lust zu enden wie alle anderen Mädchen aus Paladria. Coralia wusste, was auf sie zukommen würde, falls ihr Vater es noch einmal versuchte. Sie würde fliehen müssen. Auf ein Leben als Hausfrau konnte sie gerne verzichten, natürlich würde sie weiter häusliche Pflichten in ihrem Leben verrichten, aber sie träumte davon eine freie Frau zu sein. Ohne jegliche Vorschriften und Versagungen, sie ließ sich nicht von einem Mann befehligen. Sie war der Meinung, dass Frauen und Männer gleichberechtigt werden sollten, doch niemand hörte ihr zu, sie war schließlich nur ein dummes Mädchen in den Augen der Männer. Frauen waren nicht viel wert, manche wurden zur Hochzeit verkauft, um dem Elternhaus noch eine Absicherung zu verschaffen. Coralia aber wusste, dass sie mehr wert war. Und irgendwann würde sie fort gehen und ihr eigenes Leben leben, fernab von hier. Doch heute war noch nicht dieser Tag.

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