16. Entschärfung

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Ich glaube so schnell habe ich mich noch nie von einem Menschen entfernt, wie in diesem Augenblick.
Nathaniel schreckt deutlich auf, indem er von der Hockposition in eine aufrechte Körperhaltung wechselt. Nur knapp fällt er nicht hin, durch diese ruckartige Bewegung. Ein Schatten erscheint über mir und ich blicke direkt in ... Nein. Das glaube ich jetzt nicht! Fassungslos und mit offen stehender Luke starre ich in Alexys lilafarbenes Augenpaar, in dem sich das Feuer des Kamins wild widerspiegelt. Mein Mund beginnt sich in seiner O-Form zu verkrampfen, während der Blauhaarige anfängt sich kringelig zu lachen. Ich glaube mein Schwein pfeift! "SPINNST DU?!", platzt es plötzlich aus mir hervor und ich lege mich auf den Bauch, um nicht länger den Kopf in den Nacken zu legen. Gleichzeitig vernehme ich das erleichterte Aufatmen von Nathaniel. "Tut mir leid", schmunzelt Alexy weiter und wischt sich eine aufkommende Träne aus seinem rechten Auge, "ich musste das machen!"
"Ich könnte dich gerade wirklich umbringen dafür", knurre ich. "Ich stand kurz davor an einem Herzstillstand zu sterben!"
"Dramaqueen! Dir geht's ja offenbar wieder gut! Schicker Verband." Er sieht zu Nathaniel und schwingt lobend einen Daumen in die Höhe, wie ich es normalerweise nur von Kentin kenne. "Gut gemacht!"
Ich drehe meinen Kopf zu Nathaniel. Dieser grinst ein wenig schief. Offenbar hat er sich auch noch nicht von dem Schock erholt. Erneut richte ich meinen Blick auf meinen verfluchten besten Freund aus. "Ich bezweifle außerdem, dass es dir leid tut", wende ich trotzig ein.
"Jetzt sei nicht so böse, Lisalein, du weißt doch wie ich bin!"
Tatsächlich weiß ich das aber das versüßt mir gerade nicht meinen Tee. Verzweifelt schüttle ich den Kopf und streiche mir mit der gesunden Hand über die Stirn. "Was machst du überhaupt hier?"
"Mrs. Delaney hat mich geschickt, um nach dir zu schauen und ihr dann Bericht zu erstatten. Was soll ich ihr denn jetzt erzählen? Mal sehen ... Nathaniel und Lisa wollten gerade übereinander herfallen, also geht es ihr gut, wäre eine Option." Er tut so, als würde er weiter schwer grübeln. Währenddessen lehne ich mich etwas über die Sofalehne, um ihm in die Seite zu pitschen. "AUA", schreit er. Nathaniel kichert im Hintergrund. Ich ziehe an Alexys Oberteil, um ihn zu mir herunterzuziehen, dem er letztlich auch nachgibt. Mit strenger Mimik sehe ich ihn eindringlich an. "Mein lieber Freund", beginne ich, "ich habe noch eine reibungslos funktionierende Hand und zögere nicht sie einzusetzen, wenn du so weitermachst!"
Er grinst. "Ich hab dich auch lieb!"
"Gut, dann spiel jetzt weiter den Boten und überbring Mrs. Delaney eine anständige Nachricht!"
"Wobei die unanständigere vieeel spannender wäre!"
"Alexyyy", erwidere ich dehnend. "Letzte Warnung!"
Er tätschelt mir den Kopf. "Selbst jetzt finde ich dich süß!"
"Jetzt geh schon!" Widerwillig muss ich lächeln. Er nickt verständnisvoll und macht sich auf den Weg, zurück in die Kälte. Ich sehe ihm solange hinterher, bis die Tür hinter ihm zu fällt. Ein lauter Seufzer entwischt mir. Was einen geschmacklosen Witz Alexy sich da erlaubt hat. Das zahle ich ihm noch irgendwann heim! Auf einmal spüre ich warme Lippen auf meiner Wange. Überrascht zucke ich zusammen, ehe ich meinen Kopf leicht zu meinem Freund drehe. Er lächelt mich an. "Ich habe mich lange nicht mehr so erschrocken, wie gerade", offenbart er.
"Glaub mir, ich auch nicht!"
"Also", grinst er, "wo waren wir stehen geblieben?"
Ich muss ebenfalls anfangen zu strahlen und brauche gar keine Antwort mehr zu liefern, da er mich im nächsten Moment wieder zärtlich küsst. Ich lasse mich von ihm mitreißen und erwidere. Vorsicht legt er seine Hände auf meinen Schultern ab und dreht mich somit wieder auf den Rücken. Folglich wandert er mit seinen Fingern meinen Hals herauf, bis er sie in meinem Nacken ruhen lässt. Ich bekomme davon eine Gänsehaut, die sich gewaschen hat. Gedankenlos lasse ich mich fallen und genieße einfach unsere neugewonnene Zweisamkeit.
Irgendwann trudelt der Rest unserer Klasse ein. Nathaniel streicht mir noch einmal durchs Haar, ehe er sich erhebt und alle mit einem Nicken begrüßt. Unsere Lehrer kommen auf uns zugeeilt, was ich an den schnellen Schritten, die auf dem Holzboden ertönen, erkenne. Doch als sie mein Lächeln sehen, welches über meinem ganzen Gesicht ausgebreitet ist, schauen sie erleichtert aus.
Gut, Mrs. Delaney lässt das nicht so raushängen, wie Mr. Faraize. "Wie geht es dir?", fragt sie nüchtern.
"Gut", antworte ich. "Dank Nathaniel." Ich lächle ihm zu. Dabei sind seine Verbandskünste nicht so ausschlaggebend für mein Wohlbefinden gewesen, wie seine Küsse aber das muss ja niemand außer uns wissen. Seine Wangen werden ein wenig rot.
"Wir können uns glücklich schätzen, dass es noch solch verantwortungsbewusste Schüler gibt", bestätigt unsere Lehrerin. "Vielen Dank für deinen Einsatz, Nathaniel."
"Das ist doch selbstverständlich", gibt er lächelnd zurück.
Mr. Faraize richtet dem Schülersprecher ebenfalls seinen Dank aus, ehe er sich wieder mir zuwendet. "Und was machen wir mit dir jetzt?"
"Mich nicht notschlachten, hoffe ich", kichere ich. Nathaniel grinst.
"Ich denke du solltest morgen besser nicht mit uns fahren."
"Das halte ich auch für klüger", stimmt Mrs. Delaney zu.
Ich sehe die beiden entsetzt an. "Und was soll ich dann machen?"
"Nun", fängt sie zögernd an und setzt ein nachdenkliches Gesicht auf. "Ihr beide kommt doch gut miteinander zurecht, oder?" Nathaniel und ich sehen uns an, dann wieder sie. "Nathaniel könnte eine Runde mitfahren, während du zuschaust, und dann leistet er dir ein wenig Gesellschaft."
"Meinen Sie das ernst?", frage ich verwundert.
"Natürlich. Oder liege ich in meiner Annahme falsch und das wäre nur unangenehm für dich?"
"N-Nein!"
"Also, Nathaniel, kannst du dir vorstellen das zu machen?"
"Natürlich!" Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen aus seinem Mund.
"Gut. Sonst hättest du auch den falschen Posten übernommen."
"Wenn Mrs. Delaney das so festlegt, werde ich da nichts gegen einwenden", sagt Mr. Faraize ein wenig zerknirscht. Vermutlich fühlt er sich in dieser Entscheidung übergangen aber hält sich dennoch zurück. Beide gehen zu den anderen Schülern zurück. Ich werfe Nathaniel einen verstohlenen Blick zu. "Nathaniel", spreche ich ihn an, "auf eine gute Zusammenarbeit!" Ich strecke ihm meine rechte Hand entgegen. Er lacht leise, kommt ihr mit seiner entgegen und schüttelt sie. "Ich freue mich darauf", sagt er in einem Ton, der seinen Worten alle Ehre macht.
Plötzlich erscheint Kentin neben mir. "Lisa, wie sieht's aus?"
Ich zeige ihm meine verbundene Hand. "So."
"Mhm", gibt er von sich, als er sie mustert. "Es könnte schlimmer sein!"
"Stimmt", ist auch Nathaniel der Meinung.
Kentin sieht einen Moment zwischen Nathaniel und mir hin und her. "Störe ich?", fragt er nach einer Weile.
"Nein." Ich schüttle mit dem Kopf.
"Ganz und gar nicht", stützt Nathaniel. "Ich werde dann jetzt verschwinden. Bis morgen, Lisa." Er grinst mich komplizenhaft an. Von wegen bis morgen, du alter Schwindler! Ich winke und er entfernt sich von uns.
"Bis morgen?"
Als ich mich wieder Kentin zuwende, sieht er mich an, als wäre er im falschen Film gelandet. Fragend ziehe ich eine Augenbraue hoch. "Ja?"
"Ihr lauft euch doch heute bestimmt nochmal über den Weg." Er verschränkt die Arme vor der Brust. "Ich finde diese Verabschiedung passt nicht."
"Klar", gebe ich ihm recht, "wir werden uns heute sicher noch ein paar Mal sehen aber nicht mehr miteinander sprechen."
"Verstehe ich gar nicht."
"Wieso nicht?"
"Ihr kommt doch gut miteinander klar. Stimmt es oder habe ich recht?"
"Ähm ..."
Munter redet er weiter: "Zumindest sieht es schwer danach aus."
"Wir hassen uns nicht, so viel steht fest." Der Brünette mustert mich. "Außerdem werden wir morgen wieder genug miteinander zutun haben."
"Inwiefern?"
Was soll das hier werden? Ich lehne mich zu ihm vor, um leise zu antworten. "Ich darf morgen nicht mit Skifahren, geschweige denn mich auf ein Snowboard stellen. Nathaniel wurde nun damit beauftragt mir morgen ein wenig Gesellschaft zu leisten. Posaun das aber bitte nicht rum, es ist schließlich keine große Sache."
Sein Gesichtsausdruck spricht Bände. Mit solch einer Tatsache hat er eindeutig nicht gerechnet. Mir verschlägt seine Reaktion allerdings ebenfalls die Sprache. Ein breites Grinsen formt sein Mund, bis er schließlich anfängt zu lachen und mir auf die linke Schulter zu klopfen. Ich verstehe die Welt nicht mehr. Das grenzt ja nahezu an einem Lob, wie er mit mir umgeht. Dabei gibt es nichts lobenswertes? "Interessant", sagt er dazu. Merkwürdig. "Gehen wir ein Stück? Ich würde gerne auf mein Zimmer. Mich umziehen." Er zeigt auf seine dicke Skijacke, deren Reißverschluss er bis jetzt nur geöffnet hat.
"Natürlich, warum nicht."
Er geht vor, zum Treppenhaus. "Wie sieht es denn unter deinem Verband aus?"
"Hässlich", schmunzle ich. "Und bunt!"
"Kein Wunder, bei dem Sturz den du hingelegt hast. Dabei kannst du wirklich froh sein, dass nur deine Hand Schaden davon getragen hat.
"Ich bin weiterhin mehr als dankbar dafür, dass ich mir noch nie etwas gebrochen habe!"
Er kichert. "Du kleiner Glückspilz." Ich höre ein leises Rascheln und schaue an ihm herunter. Er versteckt seine Hände in den Taschen seiner dunkelgrünen Skihose. "Weißt du, Lisa", fängt er an, "es ist irgendwie ..." Er verstummt und seine Stirn setzt sich in Falten, was ich aber nur schwer erkennen kann, da seine Haare im Weg sind. "Ja?", hake ich neugierig nach.
"Das klingt blöd", lacht er schief. "Aber es ist irgendwie komisch nicht mehr in dich verliebt zu sein."
Ich lächle. "Das klingt nicht blöd!"
"Und ob, hast du sowas schonmal jemanden sagen hören?"
"Nein", gebe ich zu.
"Eben deshalb!" Er widmet mir ein kleines Grinsen. "Ich meine, ich liebe dich immer noch. Nur plötzlich auf eine andere Art und Weise. Wie man halt jemanden liebt, der einen fast sein ganzes Leben begleitet hat."
"Ich begleite dich auch weiterhin", beteuere ich meine Loyalität ihm gegenüber.
"Das ist süß, dass du das sagst."
"Ich verstehe jedenfalls was du meinst, Kentin."
"Du hast dein Versprechen gehalten, oder?"
"Selbstverständlich!" Ich tue so, als würde ich meinen Mund durch einen Reißverschluss verschließen. "Ich bin schweigsam, wie ein Grab."
"Mir ist es im Nachhinein wirklich unangenehm, was da gestern passiert ist."
"Keine Sorge." Ich streiche ihm sanft über den Oberarm. Normalerweise weiß er auch, dass er sich in diesem Punkt auf mich verlassen kann aber ich kann seine Skepsis trotzdem ein wenig nachvollziehen. "Möchtest du darüber sprechen?"
"Hm. Ich weiß nicht so recht. Was gibt es da schon zu sagen?"
Vieles. "Fangen wir mal hiermit an: Wie stehst du zu Alexy?"
Er zieht seine Augenbrauen zusammen. Fraglich ob er gerade angestrengt nach einer Antwort sucht oder mich für diese Frage verflucht. Nach ein paar Sekunden des Schweigens erwidert er: "Ich mag ihn."
"Nur mögen ... ?"
"... Lisa."
"Entschuldigung", spreche ich leise aus, "ich sollte die Antworten nicht so aus dir herausquetschen."
"Nein, das ist es nicht. Ich habe nur keine parat."
"Verstehe. Vielleicht musst du es dann einfach herausfinden."
"Einfach", wiederholt er lachend. "Du bist gut."
"Verbringt doch ein wenig Freizeit hier zusammen?"
"Ich habe kaum noch mit ihm gesprochen in letzter Zeit, wieso sollte er sich jetzt darauf einlassen?"
"Es ist Alexy. Er ist nicht so nachtragend, wie ich manchmal."
"Hm."
Wir nähern uns seiner Zimmernummer. Es ist weit und breit niemand zu sehen, offenbar sind alle noch immer in der Lobby. "Schreib ihm. Ist zumindest einfacher als ihn persönlich darum zu bitten." Kentin wendet sein Gesicht von mir ab, was er oft macht. Wahrscheinlich ist er drauf und dran zu erröten. "Umso eher gewinnst du an Klarheit." Ich lächle ihn aufmunternd an, selbst wenn er mich keines Blickes würdigt. Schlussendlich nickt er und holt seinen Zimmerschlüssel hervor, der ein lautes Klimpern ertönen lässt und damit die Stille der Flure füllt. "Na schön", seufzt er. "Danke, dass du mit mir gekommen bist."
"Kein Problem", winke ich ab. Wir halten vor seiner Zimmertür an und er steckt den Schlüssel rein. "Dann bis später, oder so."
"Ja", verabschiede ich mich und gebe ihm noch eine schnelle aber feste Umarmung.

So zu tun, als ob | Sweet Amoris - Nathaniel FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt