sechs

20 0 0
                                        

Die Sonne scheint durchs Fenster. Seit wann ist es morgens um sechs Uhr so hell? Ich stehe auf und nehme mein Handy in die Hand. Scheiße, ich hatte es gestern einfach ausgeschaltet. Während es hochfährt ziehe ich eine schwarze Jeans an und ein weißes Top. Wie man vielleicht merkt steh ich nicht so auf Farben. Ich schaue auf mein Handy. Kurz vor acht. Ach wie schön, schnell kämme ich mir die Haare ziehe meine Schuhe an, schnappe meine Handtasche und verlasse die Wohnung.

Gestern hab ich wohl noch ein paar E-Mails bekommen denn mein Handy blinkt. Ich habe aber jetzt keine Zeit zum lesen, dass mach ich im Bus. Während ich zur Bushaltestelle sprinte fällt mir auf wie schlecht meine Ausdauer ist. Schlechter als mein Mathe und da hatte ich grad noch so ne vier geschafft.

Als ich in den Bus einsteige fällt mein Blick gleich auf Mr. Ubekannt. Er sitzt ganz hinten im Bus und schaut aus dem Fenster. Aber nicht zu der Seite wo ich eingestiegen bin sondern die andere, vermutlich hat er mich nicht gesehen. Wie wärs wohl wenn ich ihm eine kleine Überraschung mache? Ich weiß wirklich nicht was mich treibt, vielleicht weil ich schon wegen dem zu spät Kommen genervt bin. Das er sich nicht bedankt hat habe ich auch nicht vergessen, mich wird der so schnell nicht los. Ja, ich habe ihm freiwillig geholfen, aber trotzdem sollte er sich bedanken.

Mit schnellen Schritten gehe ich auf ihn zu, doch er bemerkt mich nicht. Als ich vor ihm stehe bemerkt er mich immer noch nicht. Ich lass mich auf den Sitz neben ihm fallen und warte bis er sich zu mir umdreht. Meine Handtasche ist zwischen uns beiden, als Barriere gedacht. Er schaut mir fest in die Augen. "Guten Morgen" sage ich in einem strengen Ton und ziehe eine Augenbraue hoch. Er öffnet seinen Mund doch gleich darauf presst er seine Lippen wieder zusammen. Er sagt nichts. Rein garnichts. Wir starren uns eine Weile an bevor seine Lippen sich zu einem kleinen Lächeln verziehen. Diese dicken leicht geröteten Lippen treiben mich noch in den Wahnsinn. Wie sie sich wohl auf meinen Lippen anfühlen würden? Reiß dich zusammen Afya.

Diese hellbraunen Augen sehen so freundlich aus, aber hinter der Freundlichkeit verbergen sie Traurigkeit und Frust. Ich weiß nicht wieso aber ich glaube, dass dahinter mehr steckt. Nicht nur, dass sein, wie ich vermute, Vater ihn schlägt. Obwohl das schon schlimm genug ist. Immer wenn die Sonne auf sein Gesicht strahlt blinzelt er, mit seinen langen dichten Wimpern, die seinen Augen mehr Ausdruck verleihen. Natürlich hat er seine dazu passenden und perfekt geformten Augenbrauen.

Auf seiner Nase ist ein Plaster, welches seine Sommersprossen verdeckt. An seiner Lippe ist noch leicht aufgeplatzt, aber sie heilt langsam wieder. Und sein rechtes Auge ist noch blau. Wenn sein Gesicht schon so aussieht will ich nicht wissen wie es unter seiner Kleidung aussieht. Obwohl ich würde schon gerne sein Bauch... AFYA, schreit mein Unterbewusstsein, du wolltest sauer auf ihn sein. Ja wollte ich aber, als ich sien Lächeln gesehen habe musste ich auch unwillkürlich lächeln.

Meine ganze Wut ist verpufft. Ich drehe mein Kopf weg. Mein Lächeln ist verblasst. Wieso redet er nicht? Er hat nicht mal 'Hallo' oder so was gesagt. Als ich ihm wieder ins Gesicht blicke sind seine Lippen eine gerade Linie. Hat es ihn jetzt ernsthaft verletzt, dass ich weggeschaut habe? Aber wieso sollte es? >>Wie heißt du?<< frage ich leise. Er zuckt mit den Schultern. >>Wieso sprichst du nicht mit mir? Hast du eine Feundin oder so?<< Diesmal schaut er weg, lacht bitter und verneint mit einem Kopfschütteln. Also hat er keine Freundin. Ich muss bei dem Gedanken lachen, dass er noch zu haben ist, weil um ehrlich zu sein sieht er richtig gut aus. Ich wünschte, dass ich lieber nicht gelacht hätte, weil er schaut mich mit einem Blick an, den ich vermutlich nicht so schnell vergessen werde. Voller Trauer und Schmerz. >>Es tut mir Leid. So war das nicht gemeint, halt, äh, ich meine, dass du sehr süß...<< Ich bin so peinlich wirklich. Ich merke, dass ich rot werde und schaue beschämt zu Boden.

Ich schaue nicht hoch, nein, ich merke wie mein Gesicht glüht vor Scham. So will ich ihn nicht anschauen. Ich überlege stattdessen. Warum redet er nicht? Dabei bemerke ich nicht wie die Zeit vergeht. Ich schaue aus dem Fenster, wir sind fast da. >>Bist du stumm?<< frage ich zum Schluss. Wir sind da. Die Türen gehen auf. Er schaut mir ein letztes mal ins Gesicht bevor er hektisch aufsteht und aussteigt. Also ist er stumm? Schnell steige ich aus um ihm zu sagen, dass es nicht schlimm ist und das ich finde, dass er eigentlich sehr nett ist aber er ist verschwunden. Einfach weg. Das wollte ich doch nicht. Ich wollte ihm das Herz nicht brechen. Warum denke ich überhaupt, dass er nett ist? Ich kenne ihn nicht einmal. Vor zwei Tagen dachte ich noch, dass er undankbar ist. Warum hat sich meine Meinung in so kurzer Zeit verändert?

Im Gebäude suche ich ihn vergeblich. Hat er hier überhaupt Freunde? Ich könnte ja Helena und Blake nach ihm fragen. Aber nur so neben bei, die sollen nicht denke, dass ich etwas von dem will. Vielleicht wissen die ja seinen Namen oder wenn ich Glück habe kennen sie ihn ja sogar. Aber wann war das Glück je auf meiner Seite?

Das Ding ist, dass fast alle in den Vorlesungen sind und ich wie eine bekloppte durch die Gegend laufe und Mr. Unbekannt suche. Ich habe nicht mal gesehen ob er überhaupt ins Gebäude reingegangen ist, aber wohin soll er sonst? Hier gibt es weit und breit nichts. Nur einen Wald. So bescheuert, dass er in den Wald läuft ist er bestimmt nicht. Oder doch?

Ich gehe aufs Mädchenklo und betrachte mein Gesicht. Ich hab Augenringe, meine Haare sind fettig und mein T-Shirt ist dreckig. Das kann doch nicht sein, dass ich das nicht bemerkt habe.

Nachdem ich mein Geschäft erledigt habe spritze ich mir kaltes Wasser ins Gesicht.

Weil ich nicht mitten in der Vorlesung reinplatzen will, vertreibe ich meine Zeit mit Spazieren. Da fällt mir wieder ein, dass ich nach ein paar E-Mails bekommen hatte. Als ich meine Hand in meine Handtasche stecke um es rauszuholen, doch nichts in die Finger kriege, nehme ich meine Tasche von meiner Schulter ab und schaue nochmal genau rein. Es ist verdammt nochmal nicht da. Hab ich es auf dem WC vergessen? Nein, da hab ich es nicht rausgenommen.

Ok. Ich bin überall nochmal hingegangen wo ich vorhin auch war aber es ist verschwunden. Ich kann es einfach nicht finden. Ich frage mich was meine Eltern dazu sagen werden, denn es war brandneu.

Streng Dein Kopf an Afya. Von zu Hause bin ich mit dem Handy rausgegangen. Im Bus hatte ich es auch noch. Danach war ich auf der Toilette. Warte mal. Im Bus hatte ich es noch. Danach nicht mehr. Kann es sein, dass er mein Handy gestohlen hat? Das erklärt dann auch warum er abgehauen ist. Er muss es gestohlen haben, denn ich bin nicht vergesslich und sonst hab ich es seitdem auch nicht rausgenommen. Jemand anderes war auch nicht in meiner Nähe.

Na warte mal.

Der kann was erleben.

The Silence between usWo Geschichten leben. Entdecke jetzt