Kapitel 5

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Vor der verfallenen Hütte blieb sie stehen, sah sich um und schlüpfte durch die eingefallene Tür. Innen war es dunkel, nur die Sonne schien durch zwei zerbrochene Fenster, die nach hinten in einen kleinen überdachten Hof führten. Leisen Schrittes durchquerte Gweneth den Raum, stieß die Tür zum Hof auf und spähte nach draußen. Dort saß er, auf einem Holzstuhl, der vor einem wackligen Tisch stand und zählte Münzen, die er in der Hand hielt.

„Was sollte das?" Gweneth sah den Jungen direkt an und sprach mit klarer, ernster Stimme. Einige Schritte ging sie auf ihn zu, dann machte sie Halt und ballte die Hände zu Fäusten.

„Mach, dass du weg kommst! Oder ich prügle dich zusammen, bis zu heulend nach Hause rennst."

 Mit einem verwegenen Grinsen im Gesicht lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück. Er wusste, dass er größer, älter und ihr körperlich überlegen war, doch wusste er nichts von Gweneths neuer Energie, die sich nun, durch ihre Wut getragen, ausbildete und endlich die Mauern der Zurückhaltung durchbrach.

Ein inneres Flüstern setzte sich in Ihren Gedanken fest: Karvog Ilyum!

 Wie eine zischelnde Schlange, leise und doch durchdringend. Der Junge war mittlerweile aufgestanden und ging auf Gweneth zu.

„Ich habe gesagt du sollst verschwinden! Was ist daran nicht zu verstehen?"

 Mit grimmiger Miene befand er sich nur noch ein paar Schritte entfernt von Ihr.

Karvog Ilyum! Da war es wieder. Sie atmete schwer, denn die Luft erwärmte sich und ihr schien es, als würde sich diese Hitze ausbreiten, sie umgeben. Auch der Junge hatte bemerkt, wie warm es auf einmal wurde. Verwirrt wich er einen Schritt zurück.

 „Was ist das? Was machst du da?"

Als hätte sie es schon immer gewusst, es immer in sich getragen. Das Wissen über diese neue Energie, diese unerklärliche Gewissheit, dass sie es beherrschte. Sie öffnete ihre geballten Hände und setzte die angestaute Wut frei. Eine flimmernde Hitzewelle bildete sich und breitete sich warnend und drohend über dem Jungen aus. Mit weit aufgerissenen Augen stand er da, bis er durch die eindrucksvolle Kraft zu Boden gedrückt wurde.

„Das kann nicht sein! Lass mich in Ruhe, du Hexe."

 Er schrie und wandte sich. Gweneth war wie hypnotisiert. Die Energie, die durch sie hindurchfloss, entlud sich über dem Jungen. Erschrocken riss sie ihre Gedanken los, von den Worten, die in ihr nisteten: Karvog Ilyum.

Es erschien ihr wie im Traum. Die Luft kühl und herbstlich wie immer, der leichte Wind, der durch die Bäume strich. Nur die Angst, die sie in den Augen des Jungen sah, erinnerten sie an das, was gerade eben geschehen war.

„Du bist doch verrückt. Hier hast du deine Münzen. Das ist es mir nicht wert."

 Der Junge schrie das kleine Mädchen an, warf ihr die Münzen vor die Füße, rappelte sich auf und verschwand, immer noch angeschlagen von der Wucht der freigesetzten Energie.

Was war das nur? Ausgelaugt von dem Geschehenen sammelte Gweneth die Münzen zusammen und versuchte sich zu beruhigen. Sie fühlte sich aufgewühlt und durcheinander. So etwas sollte nicht passieren, das war nicht natürlich. Niemand kann solch eine Energie freisetzen.

Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, als ihr das Gespräch zwischen den beiden Männern wieder in den Sinn kam. Man erzählte, dass die Wilden aus den schwarzen Bergen auf dem Vormarsch sind ... Es heißt sie würden nach etwas Bestimmtem suchen, nach etwas Magischem.

 Konnte das wahr sein? Und warum sie? Ein kleines Mädchen, ohne Eltern, ohne eine großartige Zukunft, in einem kleinen, heruntergekommenen Dorf? Ihr schwirrte der Kopf. Aber es hatte früher schon solche Momente gegeben, in denen es zu kleinen Kraftschüben dieser Art gekommen war. Nur waren sie bei weitem nicht so deutlich und präsent gewesen wie gerade eben. Auch wusste die damals nicht, dass diese unerklärliche Wärme von ihr ausging. Ihre Großmutter war ein paar Mal der Anlass für diese Schübe gewesen. Aber sie hätte niemals etwas Magisches damit in Verbindung gebracht. Auch jetzt konnte sie es kaum glauben. Es schien wie ein Traum.


Karvog IlyumWo Geschichten leben. Entdecke jetzt