Dämmerung

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Der Himmel ist wolkenlos und strahlend blau. So blau, dass es beinahe unnatürlich wirkt. Die Sonne steht tief am Horizont, blendet mich, wenn die dicht stehenden Eichen und Buchen den Blick auf die prärieartigen Graslandschaften frei geben, die sich im Rot des Himmels verlieren. Es ist still, der Wind hat sich zur Ruhe gelegt, nur das monotone Summen und Zirpen der Insekten und das trocken brechende Laub unter meinen nackten Sohlen unterbricht die entspannte Ruhe. Ein heißer Tag neigt sich dem Ende zu. Das vertrocknete Gras sticht mir in die Füße, als ich zwischen den Bäumen hervor trete. Eine Distel sticht mich zwischen den Zehen und ich suche mir, hopsend und vorsichtig tastend, einen besseren Ort zum stehen. Dort blieb ich erst einmal und blickte mich zum Wald um. Er wirkte beinahe herbstlich, in der flimmernden Hitze des scheidenden Tages.
Das Krächzen eines Raben, gleich darauf die echonde Antwort eines Zweiten. Ich sehe sie über den Bäumen aufsteigen, bevor sie zwischen ihnen untertauchen, wie Delphine in den Wellen des Ozeans. Ich folge den Vögeln, langsam und vorsichtig, um keine weitere Distel zu erwischen, während über den Wipfeln die ersten Sterne aufleuchten und das Feuer der Sonne der dunklen Brandung der Nacht weichen muss.
Als ich wieder zwischen die dämmerungsblauen Stämme trete, bin ich erleichtert dem stacheligen Rücken der Wiese entkommen zu sein, gleichzeitig ist die Enge des Waldes, im Gegensatz zu dem weiten Himmel über der Wiese, beklemmend. Unter den ausladenden Kronen scheint der Abend voran geschritten und das sterbende Licht schon weit ferner, als die Schatten der Nacht. Doch auch hier ist es still. Das Rascheln meiner Schritte kommt mir mit einmal verräterisch vor, als hielte der Wald inne, würde mich, den Menschen, beobachten. Und erst, wenn meine Schritte verklangen, sein Leben wieder aufnehmen. Ich blieb stehen. Irgendwo in der Ferne schimpfte eine Amsel.
Die Finger durch Blätter, vertrocknetes Moos und Erde grabend, ließ ich mich in die Hocke nieder und lauschte. Die Stille surrte in meinen Ohren, dazwischen der dumpfe Rhythmus meines Herzens. In einiger Entfernung flatterte ein Vogel auf. Das unbeholfene Klatschen der Flügel, die auf Blätter und Zweige schlugen und das leise flatternde Pfeifen der Schwingen ließen mich eine Taube vermuten. Ich hob den Blick um meine Vermutung bestätigt zu sehen und folgte dem Tier mit den Augen, bis es, ebenso laut wie es sich erhoben hatte, in der breiten Krone einer Eiche verschwand. Einige Sekunden schwangen die Blätter noch hin und her, dann war es, als hätte sich nichts getan.
Ich lasse mich von den Fußballen auf den Rücken plumpsen, strecke die Beine aus, die Arme neben dem Kopf ausgebreitet und blickte mit halbgeschlossenen Lidern zu den Bäumen auf. Die Welt schien aus dieser Perspektive so anders, dass ich mir unwillkürlich vorstellte, wie es wäre ein Käfer oder eine Ameise zu sein. Selbst eine Spitzmaus würde zu einem gigantischen Ungeheuer werden. Meine Gedanken zogen träge dahin ohne eine bestimmte Richtung, bis ich mich fragen musste, wie ich anfangs zu diesem Gedanken gekommen war.
Eine Weile grübelte ich noch, doch schließlich würde ich unruhig uns so richtete ich mich wieder auf und bemerkte, dass der Wald um mich bereits in die unwirklichen Farben der späten Dämmerung getaucht war. Die Schatten rückten zusammen und flüsterten mit der Abendbrise. Nur noch ein wenig Farbe klammerte sich an Blättern, Rinden und Moosen fest. Mückenschwärme scharrten sich mit nervtötendem singenden Lachen um mich und Gnietzenschwärme tanzten in den letzten verstaubten Korridoren aus Licht, die der brennende Mutterstern in die Reihen der Schattenkrieger entsandte. Es wurde kühler und ich konnte mir die blutrünstigen Mückenscharen nur vom Leib halten, in dem ich immer in Bewegung blieb.
Als ich tiefer in den Wald vordrang, kam mir die Nacht mit großen Schritten entgegen, zog lautlos mit ihrem Heer an mir vorbei, umspülte mich, wurde immer dichter und erreichte weit hinter mir die Wiese. Sie jagte über diese hinweg, der Sonne entgegen, um die über den Horizont hinweg zu treiben. Kaum war die Sonne gefallen, stimmten die Gefährten der Nacht mit rascheln, zirpen und heiseren Rufen ihre Hymne an.
Mit dem Licht verschwanden auch Mücken und Gnietzen, sodass ich langsamer ging und mit geweiteten Pupillen in die verschwommenen Umrisse spähte. Der Laubteppich leuchtete beinahe, wodurch sich die Stämme der Bäume wie Scherenschnitte von ihm abhoben. Aufgeschrecktes Rascheln einige Meter vor mir, gefolgt von weiten Sprüngen. Rehe oder Damwild, den Sätzen nach zu urteilen.
Ich sah es vor mir, wie sie sich duckten, erstarrt meinen Schritten lauschten und erst im letzten Moment wie Grashüpfer aus dem Unterholz schnellten, nur um in einiger Entfernung witternd und lauschend zu verharren. Die tiefdunklen Augen auf das Menschenmädchen gerichtet, das das Zirpen der Grillen um sich verstummen ließ. Ich fragte mich, wer oder was mich noch unbemerkt aus dem Blätterwerk heraus beobachtete, mit Augen die das Sternenlicht wieder spiegelten.
Unerwartet bemerkte ich, dass die Bäume sich in einiger Entfernung vor mir lichteten und den Blick auf eine Nebelwand freigaben, die Wasser oder feuchtes Gebiet vermuten lies. Ich zerbrach mir den Kopf darüber wo ich sein könnte, den ich erinnerte mich nicht, in dieser Gegend jemals auf Wasser gestoßen zu sein. Während ich auf den außerweltlich scheinenden Dunst zuhielt, von Neugier getrieben, stellte ein anderer Teil von mir mit Unruhe fest, dass ich mich verlaufen haben musste.
Als ich unter den Bäumen hervor trat, lösten sich wie bleiche Lichtstreifen junge Birken aus dem Dunst, gespenstisch leuchtend. In einiger Entfernung kauert geduckt eine Hütte. Ihr Dach ist eingesackt, wie der Rücken eines alten Pferdes. Ich gehe langsam auf diese zu, immer den Blick auf den Boden gerichtet. Trotz der Hitze des Tages sinke ich bis zu den Knöcheln in schwammigem Moos und nasse Grashalme bleiben zwischen meinen Zehen hängen. Ich kann das Platschen von davon springenden Fröschen hören. Ein Blick nach oben zeigt mir den klaren Sternenhimmel dieser Nacht. Der große Wagen stand auf der Deichsel über dem schwarzen Waldrand. Der Mond war nicht zu sehen. Ich umrundete das winzige Gebäude, immer eine Hand auf der, von Wind und Regen spröde gewordenen Holzwand. Ein einziges kleines Fenster, ein Holzschuppen, zusammengeklappt wie ein Kartenhaus und der Geruch nach Fisch. Er haftete so stark an, jedem Grashalm in der Nähe, dass ich den vergessenen Fang eines Fuchses vermutete.

Die Tür knarrte laut, als ich sie aufdrückte. Drinnen empfing mich muffige Luft und ein weiterer Geruch, den ich nicht einordnen konnte, außerdem der nach Fisch. Es war so dunkel, dass ich kaum mehr ausmachen konnte, als den Tisch, der unter dem milchigen Fenster stand. Ich tastete mich blind zur Wand auf der rechten Seite. Der Boden war staubig und voller Mäusedreck. Nicht der beste Ort zum übernachten, aber ich hatte vor morgen die Umgebung genauer zu untersuchen, außerdem hatte ich mich ja ohnehin schon verlaufen. Im Dunkeln  nach dem Weg zu suchen war eine denkbar schlechte Idee. Ich rollte mich auf die Seite, den Rücken gegen die Wand die Arme unter den Kopf. Ungewöhnlich.
Normalerweise hätte ich lieber im Wald übernachtet, um die unwahrscheinliche Situation zu vermeiden, auf einen Obdachlosen oder ähnliches zu stoßen. Doch hier fühlte ich mich sicher. Tropfendes Wasser, leises platschen irgendwo an der hinteren Wand.
Ich schloss die Augen.

Die Helligkeit und das Zwitschern der Vögel weckten mich. Das Licht wirkte Türkis und Zitronengelb, gleichzeitig auch moosgrün, strahlend hell und dunstig. Ich drehte mich von der Wand weg und kniff die Augen zu, als mich die weißen Strahlen blendeten. Ich streckte mich und blinzelte, als ich aus dem hellen Licht in die Schatten hinauf tauchte.
Erschrocken hielt ich inne.
Am Tisch unter dem Fenster saß jemand.
Eine kleine Gestalt, das Gesicht im Schatten, die Umrisse von moosgrünem Licht grell umzeichnet. Ein Kind.
Das Licht lässt die Augen von beiden Seiten her in türkis und hellgold strahlen. Reflexe tanzen in diesem halb beschatteten Blick der hinunter auf mich gerichtet ist. Es streckt den dünnen Arm aus,  silberne Schuppen bedecken die weiße Haut. Schuppen? Ich blinzle, ach nein, es sind Wassertropfen. "Hallo?" Frage ich verwirrt. Es lacht erfreut auf, als wäre der Klang meiner Stimme des Unerwartetste was hätte passieren können. Nur klingt es nicht wie ein Lachen, sondern eher wie...
Das Kind greift auf der Tischplatte nach etwas und hält es mir entgegen, wie eine Puppe oder ein geliebtes Spielzeug.
Die Sonnenstrahlen brechen sich auf blausilbernen Schuppen, Wasser tropft auf den Holzboden und als ich sehe was es ist, weiß ich, dass das Kind die ganze Nacht in meiner unmittelbaren Nähe verbracht haben muss. Lautlos. Den Blick leuchtend im spärlichen Licht.
Ein Fisch.
Das Tropfen am Abend. Überall auf dem Boden sind Pfützen. Das Tier zuckt in der Hand des Kindes. Die starren Augen blicken mich an. Seltsamerweise scheint der Schuppige sich nicht unwohl zu fühlen, oder bildete ich mir das ein? Das Kind strahlte mich an, hockte sich auf den Boden, hielt den Fisch hoch und schrieb mit Wasser Zeichen auf den Boden. Neugierig näherte ich mich. "Ich zeige ihm das Oberwasser. Er möchte dich kennenlernen." Es hob den Kopf und grinste mich an. Tausende winziger spitzer Raubfischzähne blitzten mir entgegen. Wasser lief aus den Mundwinkeln und das blondgrünliche Haar kringelte sich feucht über den Wangen. Ich wich zurück. Nicht Angst haben! Es hatte den Mund nicht zum sprechen geöffnet, dennoch hatte ich seine Stimme deutlich gehört. Träumte ich? Das Kind stand auf und tapste zur Tür, weitere Wasserpfützen bildeten sich über den gesamten Boden verteilt, als beginne die Hütte zu sinken. Es hatte die Tür geöffnet und winkte mir, nach zu kommen. Komm, gehen gleich wieder wir müssen. Nervös folgte ich ihm, denn was hätte ich sonst machen sollen? Das junge Licht des neuen Tages blendete mich. Das Kind stand, den Fisch hoch haltend, in der Tür und lächelte mich weiterhin an. Ich ging an ihm vorbei, zögerte und drehte mich noch einmal um. Tschüss sagen er. Es deutete auf den Fisch. "Tschüss." Echote ich verwirrt. Der Fisch zappelte. Wir sehr froh du wohnten in bei uns.

Ich ging über das Moor und sah mich immer wieder um, rechnete jeden Moment damit, dass sich alles was ich sah in Rauch auflöste. Doch da stand das Kind, winkte und hielt den Fisch hoch über den Kopf.

Noch Tage später suchte mich der Blick des Fisches und das spitze Lächeln des Kindes in meinen Träumen heim und das Tropfen von Wasser ließ mich zusammen zucken. Doch seltsamer Weise fürchtete ich die Ursache meiner Albträume nicht. Das moosgrüne Licht und die Vertrautheit zwischen den Beiden, die leuchtenden Augen im Dunkel der Hütte.
Natürlich suchte ich den Ort des Geschehenen noch einmal auf, um ganz sicher zu sein, dass ich nicht geträumt hatte, doch statt dem Moor fand ich eine Lichtung, die in der Mittagshitze brütete. Dennoch zweifelte ich nicht. Das Fischkind und sein Freund waren hier gewesen, denn das märchenhafte Licht hing noch immer zwischen den Bäumen, ebenso der mir nun vertraute Geruch nach Fisch und einer geheimnisvollen Welt, die mit dem Morgen hinabgesunken war, wie ein Ozeanriese, der auf den Grund des Meeres trieb.

Das Lied der welken KirschblüteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt