Sie war noch nicht bereit. Noch nicht bereit zu gehen.
Noch lange nicht.
Ich hatte es nicht gewusst. Nicht gewusst wie rot es war. Scharlachrot.
Unecht wirkte es an meinen Händen. Wie die Farbe, in der wir im letzten Sommer den Schuppen gestrichen hatten.
War es wirklich erst ein Jahr her?
Ein Jahr. Zwölf Monate. 365 Tage. Vier Jahreszeiten. Tausend Augenblicke.
Eine halbe Ewigkeit.
Verstrichen wie der Flügelschlag eines Sperlings. Zu schnell, um ihn genau sehen zu können. Nur ein einziger in einer Abfolge von Bewegungen, die ihn in den Himmel, die Freiheit, erheben sollten.
Doch kaum ist der Vogel über den Bäumen aufgestiegen, fällt ein Schuss. Ein Schuss der alles mit einem Mal zunichte machen sollte. Federn stieben und das zum fliegen geschaffene Wesen stürzt zu Boden. Die dunklen Augen sehen nicht mehr. Sie spiegeln den Himmel, den er nie mehr erreichen würde.
Aber warum? Ist der Vogel nicht zum fliegen geschaffen? Wer nimmt sich das Recht, ihm diese Freiheit unerreichbar zu machen? Wer?Ihr angestrengter Atem. Ihre Finger sind kalt. Ihr Körper ist steif. Ich muss sie wärmen, irgendwie.
Nein! Nein!
Sie ist so klein und zerbrechlich in meinen Armen, trotzdem drücke ich sie so fest ich kann. Wiege sie hin und her, wie ich es früher immer gemacht habe und flüstere ihr zu, wie sehr ich sie liebe. Die Worte sprudeln über meine Lippen. Alles, was sie unbedingt wissen muss. Ich weiß nicht, ob sie mich noch hört. Ich hoffe sie spürt keine Schmerzen. Warum endet es so? "NEIN, verdammt, NEIN!" Mein Körper verkrampft sich. Ich zittere fürchterlich und wische mir immer, immer wieder die Tränen aus den Augen. Reiss dich zusammen! Ihr Blick wandert über den Himmel. "Ich will noch nicht..." Meine Tränen fallen auf ihre Wangen, ich streiche fahrig über ihre Wangen, ihr Haar. Immer und immer wieder. "Ich liebe dich, Kleines." Krampfartig hebt sich ihr Brustkorb, heiser rasselt Luft in ihre Lungen. Ihr Körper zittert, sie streckt sich, jeder Muskel scheint sich anzuspannen. Sie zuckt. Dann kehrt Ruhe ein. Endgültige Ruhe.Ein gequälter Laut quillt aus meinem Innersten hervor. Sie ist fort. Es ist, als ob mein Herz und meine Seele versuchen würden sich durch meine Kehle nach draußen zu drängen. Und nun weine ich, streichle ihr unaufhörlich durch die Haare. Gleichzeitig weiß ich nun, dass sie nichts mehr spürt. Sie leidet nicht mehr. Doch ich kann es nicht aussprechen, ich kann nicht sagen, dass sie...
So jung.
Ich fühle nach ihrem Herzschlag, um ganz sicher zu sein. Nein, da ist nichts mehr. Ich kuschle mich an sie. Ihr Körper ist noch trügerisch warm.
Meine Schwester. Wohin bist du gegangen? Der Himmel war doch noch lange nicht nah genug, um ihn mit den Flügelspitzen zu streifen. Du hättest noch so viel höher fliegen sollen. So viel höher.
Die Farbe kriecht in meine Kleidung. Genauso schlecht auszuwaschen, wie die in deinem Lieblingskleid. Nach der Arbeit sahst du aus, als hättest du nicht den Pinsel, sondern dich in den Farbeimer getaucht. Rote Flecken, die uns immer an diesen sonnigen Nachmittag erinnerten. Du hast das Kleidchen trotzdem getragen. Mama hat immer darüber gelacht, wie sehr du es versaut hattest.
Rot.
Wenn ich die Augen schließe, ist es fast, als währe es irgendein beliebiger Tag. Wir würden auf der Couch auf der Terrasse liegen und du würdest mir von der Katze erzählen, die du immer im Garten siehst.
Nein.
Du warst noch nicht bereit. Noch lange nicht.
Dein Blick ist grau und blind. Wie schnell das Leben weicht. Vorsichtig versuche ich deine Augen zu schließen. Ich will nicht sehen, wie der letzte Schimmer schwindet.
Dein Lachen klingt in meinen Ohren.Kleiner Vogel, leicht und frei...
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Das Lied der welken Kirschblüte
Short StoryEine Sammlung von Kurzgeschichten. Fantasie, die Beschreibung von Augenblicken und Gedanken. Ich sage es so: Geschichten über ziemlich alles, was mich am Schlafittchen aus der Realität schleift. *hilfe!*