Titel 35: Zeit heilt alle Wunden

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Der braune Koffer neben Matt sah viel zu klein aus, als das er damit vielleicht mehrere Monate überleben konnte. Es war auch nur das nötigste darin. Ein wenig Unterwäsche, ein paar Hosen und Pullis – all das was man bei einem stationären Alkoholentzug eben brauchte. Alex war optimistisch, meinte Matt bräuchte nicht mehr. Während Matt schon eine zweite Tasche gepackt hatte und in seinen Schrank gestellt hatte. Er glaubte nicht an eine schnelle Heilung. Er wusste überhaupt nicht mehr, an was er glauben sollte. Es war der 3. Januar. 2016 und es war kalt. So kalt, das seine Mutter ihren schrecklichen blauen, fast bodenlangen Mantel ausgepackt hatte. Ihre Hände steckten in pelzigen Handschuhen und umklammerten den Griff von Theos Kinderwagen. Man sah Theo unter den tausend Decken, Mützen und Schals kaum.

„Matt", sagte sie als sie keuchend vor ihm stehen blieb, „warum seid ihr nicht schon längst rein? Es ist viel zu kalt hier draußen. Ihr erkältet euch noch!"

Und wieder einmal wunderte sich Matt über seine Mutter. Als sei eine Erkältung im Moment sein größtes Problem. Aber Annelise Hagen hatte wohl beschlossen, dass 2016 ihr Jahr war. Sie war am 1. Januar neben Matts Bett aufgetaucht, nachdem Oliver ihr davon erzählt hatte, und war seitdem kaum von seiner Seite gewichen. Es war als wollte sie seine Kindheit nachholen. Sie hatte alle Ärzte genervt, jede Broschüre fünfmal gelesen und war bei wohl besser informiert als Matt jetzt. Sie war es auch gewesen, die die Klinik ausgesucht hatte. Matt war es egal gewesen. Er wollte es nur hinter sich bringen und endlich wieder etwas anderes fühlen als schmerz und ein schlechtes Gewissen. Aber seine Mutter wollte ihn nahe bei sich haben und darum standen sie nur eine halbe Stunde von Zuhause entfernt vor einer grauen Wiese, in deren Mitte ein großes weißes Haus stand. Es war fast schon zu klischeehaft. Annelise nickte ihrem Sohn aufmunternd zu und lächelte leicht. „Lasst uns rein gehen." Sagte sie und schob Theo an ihnen vorbei. Der Kies knirschte unter den Wagenrädern. Alex nahm Matts Hand, die kalt waren und drückte sie leicht. Es sollte wohl aufmunternd gemeint sein, aber Matt fühlte sich wie hinter einer Nebelwand. Er packte seinen Koffer und zerrte den Trolli über den Kies seiner Mutter hinter her. Der Weg vom Parkplatz durch die Gartenanlage zur Anmeldung kam ihm ewig vor. Er hatte kein Wort gesprochen seit sie heute Morgen das Krankenhaus verlassen hatten und auch jetzt war ihm nicht nach reden zumute. Er wollte ein Bett haben, schlafen, sich die Decke über den Kopf ziehen und die Welt vergessen. Das Gefühlschaos in seinem Kopf machte ihn verrückt und er wusste wie er normalerweise damit zurechtkam. Whisky oder einfach schon nur ein Bier würden reichen, vielleicht auch zwei und er würde sich sofort besser fühlen. Zumindest würde er weniger denken, weniger Fühlen und nur das war sein Problem.

„Matt", sagte Alex neben ihm laut und schüttelte ihn leicht an der Schulter, „wir sind da."

Matts Blick stellte sich scharf und er stellte fest, dass sie bereits im Haus standen. Direkt vor ihnen eine Rezeption hinter der eine blonde Frau in blauer Schwestertracht stand. Sie tat als wäre sie beschäftigt aber Matt merkte, dass sie nur darauf wartetet angesprochen zu werden. Und sie musste nicht lange warten. Annelise ließ Theo neben Matt und Alex stehen und ging an die Rezeption.

„Guten Tag", sagt sie, „wir sind angemeldet. Um neun Uhr sollten wir hier sein."

Die Frau lächelte und nickte. „Wir ist den der Name des Patienten?"

Annelise zögerte kurz und warf einen Blick über ihre Schulter zu ihrem Sohn, der mit ausdruckslosem Gesicht hinter ihr stand. „Mathias Hagen." Sagte sie schließlich.

„Ah ja...hier habe ich es schon. Einen Moment bitte. Es wird sie gleich jemanden abholen kommen." Sagte die Frau und schob ein Heftchen über den Tresen. „Hier habe ich noch einen Lageplan und wichtige Informationen für sie. Auf dem Zimmer werden sie noch weitere Information erhalten." Erklärte sie, während sie sich schon wieder auf ihren Stuhl setzte.

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