Kapitel 6

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In meinem Kopf hatte ich mir Elyas immer noch als den kleinen Jungen vorgestellt, als den ich ihn zuletzt gesehen hatte: Pummelig, rundes Gesicht, blonde Haare im Topfschnitt, gestreiftes Shirt und schwarze, runde Brille. Dieses Bild ließ sich einfach nicht mit dem vereinen, das vor mir stand: Elyas war im Gegensatz zu meinen 1,69m relativ groß, vielleicht fast eins neunzig. Seine blonden Haare standen lockig vom Kopf ab und das schwarze Shirt betonte seine leicht muskulösen Arme. Er war nicht extrem durchtrainiert, doch man sah ihm an, dass er regelmäßig Sport trieb und ins Fitnesstudio ging. Seine Gesichtszüge waren kantig und doch freundlich und aufgeschlossen. Die Brille war aus seinem Gesicht verschwunden und seine braunen Augen leuchteten im Licht. Kurz und gut: Er sah aus wie jemand, der beliebt war und Leute wie mich normalerweise geflissentlich ignorieren würde.

,,Heyyy...", sagte er plötzlich und ich fand seine tiefe Stimme auf Anhieb angenehm.

Ich spürte wie er mich musterte. Bestimmt findet er dich jetzt schon nervig und hässlich.

,,Hi", antwortete ich mit einer leisen und krächzenden Stimme. Er lächelte und mir war die Situation total unangenehm: Was erwartete er nun von mir? Was sollte ich sagen? Sollten wir Hände schütteln? Doch ich wusste, dass meine Angst mich zu sehr gelähmt hatte, als dass ich mich auf ihn zu bewegen könnte. Kurz schloss ich meine Augen und schaute dann auf den Boden. Meine Hand zitterte noch immer verräterisch und ich schob sie in meine Hosentasche.

,,Ich habe mir dich ganz anders vorgestellt.", brach Elyas auf einmal die Stimme.

Bestimmt hat er gedacht ich wäre cooler. Selbstbewusst. Gutaussehend. Und jetzt habe ich ihn enttäuscht. Er verachtet mich bestimmt total.

Tränen traten mir in die Augen und ich blickte schnell aus dem Fenster.

Was er wohl von mir denken muss? Zitternde Hände, krumme Körperhaltung, gesenkter Blick, krächzige Stimme, Heulsuse, Freak.

,,Also nicht, dass ich mir dich hässlicher oder dümmer vorgestellt habe, einfach anders.", versuchte er, sich zu verbessern. Ihm war wohl aufgefallen was seine Worte für eine Wirkung auf mich gehabt hatten. Ich zuckte mit der Schulter.

Mir fielen so viele Sachen ein, die ich sagen könnte. So viele Dinge, die ich fragen wollte. Doch etwas schnürte mir den Hals zu und ich brachte keinen Ton heraus. Nein, nicht etwas: Es war die Angst. Wie immer.

,,Ehm ja...", machte Elyas dann, ihm schien nichts einzufallen, was er sagen könnte, ohne in ein Fettnäpfchen zu tappen. Doch dann kam ihm wohl eine Idee:,,Fährst du denn schon lange Ski? Oder Snowboard? Also ich stand das letzte Mal vor zwei Jahren auf Skiern, bin eh nicht so gut darin."

Lange legte ich mir eine Antwort zurecht. Das tat ich immer, bevor ich etwas sagte. Außer bei meiner Mutter, denn dort sprach ich immer das aus, was ich dachte.

,,Ich fahre Ski seit ich drei bin, eigentlich ganz gut.", murmelte ich dann. Ski fahren war eines der wenigen Dinge, bei denen ich mir selbst zugestand es gut zu können.

Wieder trat diese nervöse und unangenehme Stille ein. Ich hasste Schweigen, aber andererseits hasste ich es auch zu reden. Nun ja, ich hasste es nicht wirklich: Mir machte es eher Angst. Auch verstand ich es nie, wenn in Büchern die Wortverbindung ,,angenehmes Schweigen" vorkam: Das ist doch ein Widerspruch in sich! Schweigen zeugt doch davon, dass man nicht weiß, was man sagen soll!

Freak. (boyxboy)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt