Deutschland, Juli 1946

747 33 19
                                    

Helga lachte immer noch. Das war das erste Mal seit dem Kriegsende, dass ich sie lachen sah, also nach über einem Jahr! So ließ ich sie, auch, wenn es auf meine Kosten ging. Es muss auch wirklich komisch ausgesehen haben, wie ich mitsamt des vollgepackten Fahrrads in den Graben geplumpst bin! Und jetzt auch noch herum alberte, dass ich links wohl drei Kartoffeln mehr geladen hätte und sich dadurch ein Ungleichgewicht eingestellt hätte, also müsste ich die Kartoffeln nach erfolgreicher Rettung dieses Mal gleichmäßig an mein Fahrrad hängen.

„Ilschen, du bist 'n echter Knaller!" kicherte meine Schwägerin und wischte sich die Tränen aus den Augen.

Oh, nein, das war ich weiß Gott nicht! Ich war meiner Schwiegermutter ein Dorn im Auge. Wie konnte ich nur Scherze machen, wenn mein geliebter Ehemann im Krieg verschollen wäre? Und wo wir Tag für Tag um unser Überleben kämpfen mussten? Doch ich kam aus einem lustigen Hause. Mein lieber Vater, ein übergewichtiger Pazifist und Dickkopf, hatte nie einsehen wollen, dass es im Osten immer gefährlicher geworden war. Er war in Königsberg geblieben und hatte selbst bei unserem traurigen Abschied noch Scherze gemacht. Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben, ich war sehr lange die Frau im Hause gewesen, bis Hermann erschienen war und mich „weg geheiratet" hatte.

Endlich hatte ich alle Kartoffeln wieder eingesammelt und an meinem Rad befestigt. Natürlich hatte Helga mir nicht helfen können, da sie selbst mit einem Kartoffeltransport beschäftigt war und ihr Rad wohl umgefallen wäre. Mein Sturz hatte uns kostbare Zeit gekostet und als ich versuchte, wieder auf das Rad zu steigen, verlor ich immer wieder das Gleichgewicht.

„Ist wohl besser, wenn wir schieben, oder?" fragte Helga nachdenklich.

„Wie spät ist es?" entgegnete ich und schielte besorgt zur untergehenden Sonne.

„Ich weiß nicht. Vielleicht noch ein- zwei Stunden bis zur Ausgangsperre."

„Das schaffen wir nie! Wir sind schon eine Stunde hier raus geradelt!" keuchte ich, während ich mein Rad kräftig anschob und versuchte, schneller zu werden.

Ich war völlig verschwitzt und meine Füße schmerzten fürchterlich. Ich wußte, zuhause würde es wieder Ärger geben, dass ich mich fort gewagt habe, obwohl mein Sohn Franz noch ein Kleinkind war. Und ja, meine liebe Schwiegermutter Auguste wäre doch viel zu alt und gebrechlich, um so lange auf den kleinen Wirbelwind aufzupassen! Andererseits wollten sie ja auch etwas zu essen haben! Ich seufzte schwer.

„Ich versuche nochmal, aufzusteigen..." rief ich Helga hinterher, die schon viel weiter war.

Nun, sie war ja auch um einiges jünger und flinker!

„Lass es doch lieber!" antwortete Helga. „Wenn du noch einmal..."

Doch es war schon passiert. Plumps, karbumm, lagen ich und die Kartoffeln im trockenen Sand.

„Ilschen!" stöhnte Helga. „Siehst du!"

Als ich wieder aufbruchsbereit war, war es bereits dunkel geworden. Ich war müde und erschöpft, hatte Durst und sehnte mich nach meinem kleinen Liebling. Doch Franz würde sicherlich schon schlafen, wenn wir mit dieser Riesenausbeute heimkamen. Wir hatten genug Kartoffeln, um sogar noch die Ziegler's und Reimann's mit durchzufüttern!

„Ich sehe die Brücke!" japste Helga plötzlich. „Sie ist beleuchtet!"

„Das heißt, sie sind schon da!" keuchte ich und ging schneller.

„Ilse, es ist sinnlos. Die Engländer lassen uns nicht mehr hinein. Komm, wir suchen uns einen alten Schuppen und übernachten dort."

„Bist du verrückt? Wir sind völlig wehrlos! Und glaube mir, die Streuner werden uns nicht nur die Kartoffeln klauen!" antwortete ich entsetzt.

Der Mann auf der BrückeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt