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„Augen auf!", keifte die Visagistin.
Ich tat, wie mir befohlen war und schaute zur Decke, weil ich den Ablauf bereits kannte und wusste, was jetzt kam.
Heute war die Wimperntusche rot. Blutrot. So etwas hatte ich in all den Jahren noch nie gesehen. Aber es sah toll aus. Es passte zu den grellen Farben des restlichen Make-ups.
Die Frau fuhr noch ein letztes Mal mit ihren dicken Fingern durch meine geglätteten Haare, bevor sie mich ins Ankleidezimmer entließ. Dort empfing mich schon meine Managerin, die ziemlich abgehetzt aussah. Und das sollte ich jetzt zu spüren bekommen.
"Grace, wo ist dein Kleid? Los, beeil dich!"
Was hatte sie denn für ein Problem? Ich war eine der letzten Läuferinnen. Trotzdem fragte ich nicht nach, weil man die Anweisungen einer Managerin nicht hinterfragte. Doch das störte mich nicht, denn so waren die Regeln. So lief eben das Geschäft und dieses Geschäft war mein Leben.
Inzwischen war ich in das Kleid eingeschnürt worden und hatte mir ein passendes Paar Schuhe herausgesucht. Ich war fertig.
Meine Managerin sah etwas zufriedener aus und zog mich sofort in Richtung Laufsteg. Sie konnte mit einer Hand meinen Oberarm umschließen.
Wir kamen an einem Model vorbei, das ich aus anderen Shows bereits kannte. Ich nickte ihr höflich zu. Doch sie schaute mich gar nicht an. Und da erst erfasste ich die Situation. Das Kleid, in dem sie steckte, hatte einen Riss. Ihre Assistenten kamen gerade in Begleitung eines älteren Herrn um die Ecke und direkt auf sie zu stolziert. Der Designer. Was sie taten, bekam ich nicht mehr mit, weil ich weitergezerrt wurde. Plötzlich verstand ich. Sie hätte jetzt laufen sollen. Verstohlen sah ich meine Managerin an. Irgendwie hatte sie das mitbekommen und mich als Ersatz vorgeschlagen. Ganz schön schlau. "Danke", flüsterte ich ihr zu, als sie mich in die Richtung schob, aus der gerade ein anderes Mädchen kam.
Ich betrat den Laufsteg. Der Rhythmus der betörenden, schlichten Musik führte mich sicher. Wie oft hatte ich das schon gemacht? Es war nichts Besonderes. Es war nicht schwierig. Mein Körper wusste, was zu tun war und meine Augen fokussierten sich auf das Ende des Raumes. So einfach. Die Leute waren begeistert.
Meine Managerin lächelte mich an, als ich fertig war. Mehr bekam ich nicht. Nur dieses Lächeln, aber das kannte ich auch schon. Obwohl es heute anders war. Da schwang etwas mit. Ja, ich war mir mit jedem Schritt in Richtung Aufenthaltsraum sicherer, dass sie mir etwas verheimlichte. Nur was?
Als wir unser Ziel erreichten, zog sie mich sofort in eine leere Sofaecke, die etwas abseits stand. Ich konnte ihr ansehen, dass es ihr schwer fiel. Sie wollte es mir nicht sagen, aber sie musste. Es war ihre Aufgabe. Ich hatte auch Aufgaben.
Ihr Blick klammerte sich an ihrem Notizbuch fest und ihre Stimme zitterte, als sie endlich, endlich anfing.
"Also, Grace. Ich muss dir etwas Wichtiges sagen. Du weißt, dass ich dich sehr schätze. Als Mensch und als Model. In dir steckt so viel. Leider..."
Warum machte sie denn jetzt eine Pause? Ich merkte schon, dass es unangenehm werden würde. Für uns beide. Sie holte Luft. Einmal, zweimal. Die Zeit verstrich. Sie rang sich dazu durch, fortzufahren.
"Leider habe ich nicht viel mitzureden. Am Ende hat die Agentur das Sagen. Sie..."
Wieder eine Pause. Mein Bauch bekam Krämpfe.
"Sie finden deinen Stil eintönig. Du kannst nicht mehr überraschen. So wie am Anfang deiner Karriere. Grace, es tut mir unheimlich Leid."
Sie nahm meine Hand. Nein, das konnten sie nicht machen. Ich wollte sie aufhalten, den Rest auszusprechen, doch sie hatte anscheinend vor, es schnell hinter sich zu bringen. Plötzlich wirkte sie nicht mehr angespannt, sondern kühl, professionell.
"Sie haben deinen Vertrag fristlos gekündigt. Du bist raus."
Alles in mir schrie. Es war wie ein Schlag. Ein angekündigter Schlag. Ein fester Schlag, der tief ging. Mein Leben war vorbei. Das Modeln war alles, was ich gewollt hatte. Alles, was ich konnte. Ich merkte gar nicht, dass ich aus dem Raum gerannt war und durch den Backstagebereich stürmte. Ich merkte gar nicht, dass ich umknickte und auf den kalten Boden aus Beton stürzte. Da war ich nun, am Boden.

Blutrote Tränen überströmtenihr Gesicht.


Bildergeschichten - Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt