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Die Zeit läuft. Immer weiter und weiter.
Niemand kann so recht sagen, wohin sie läuft.
Ich ebenfalls nicht, auch wenn sie letztendlich bei mir landet. Doch wo das ist, das weiß ich nicht. Am Ende der Welt, die ich noch nie gesehen habe, im weiten Universum, das voll von zeitlichen Mutationen ist. Ich könnte mich überall im Nirgendwo befinden.
Da bleibt natürlich die Frage, woher ich von all dem wissen kann, wenn ich doch so wenig Ahnung und nichts davon je mit eigenen Augen gesehen habe.
Wenn man Augenblick für Augenblick jeden einzelnen, kleinsten Bruchteil der Zeit einsammelt, um ihn von Erinnerungen zu säubern und dann wieder auf die Reise zu schicken, sieht man vieles von dem, was Zeit erlebt. In einer halben Sekunde passiert so viel, dass es mich die Ewigkeit kosten würde, jedes einzelne Erlebnis anzuschauen. Wie gut, dass ich die Ewigkeit habe.
So kann ich ab und zu Blicke auf die Momente werfen und die aufheben, die mir besonders wichtig vorkommen.
Zwar macht mich jeder Augenblick, den ich aufhebe, um diesen älter, doch wenn man rund um die Uhr immer dasselbe macht, keinen Schlaf oder Ernährung braucht, dazu keinerlei möglichen Zeitvertreib zur Verfügung hat, kann einem schon sehr schnell langweilig werden.
Und für diese Momente der Langeweile hebe ich mir schöne Augenblicke auf. Selbst wenn es mich irgendwann mein Leben kosten wird. Wohl zuerst die Schönheit, aber letztendlich ganz sicher auch das Leben.
Wenn ich mein Aussehen nach den Kriterien der Menschen beurteile, weil diese Lebewesen mir am ähnlichsten sind, dann kann ich behaupten, dass ich die schönste Frau auf der ganzen Erde wäre, wenn ich denn eine ganz gewöhnliche Frau sein würde.
Ganz gewöhnlich ist allerdings nur die Ladung an Momenten, die gerade ankommt. Also breche ich die einzelnen, leuchtenden Stäbchen ab, die sich an die Augenblickblase geheftet haben. Die Menschen, die glauben, dass einige Erinnerungen unvergesslich seien, irren sich gewaltig. Denn sobald die Sammlung eines Zeitpartikels nicht besonders ist, wird sie zerstört. Das Teil, in dem sie landen, würde die Erdbevölkerung als Ofen bezeichnen. Ein merkwürdiger Ofen im Vergleich zu ihren eigenen.
Aus dem riesigen, gläsernen Rohr steigt silberner Dampf auf, der die neuen, alten Blasen zum Fliegen bringt. Wohin auch immer.
Als ich fertig bin, kommt eine neue Ladung an. Genauso eintönig wie die davor.
Ermüdet gehe ich in mein Zimmer, wenn man den fast komplett leeren, dunklen Raum ein Zimmer nennen kann.
Auf dem Boden liegt verstreut meine Sammlung an Augenblicken, die alles in leichtes Licht tauchen.
So auch den Spiegel, in dem ich meinen vollkommenen Körper betrachten kann. Kleider trage ich keine. Dafür ist meine unendliche Zeit zu kostbar.
Dann gleite ich hinunter, spüre die Kälte auf meiner nackten Haut und lege mein Gesicht behutsam auf eine der riesigen, türkisfarben leuchtenden Kugeln.
Sofort sehe ich Bilder. Sie ziehen an mir vorbei wie ein Film. Alles auf einmal. Durch die ganze Welt. Plötzlich sehe ich es aufblitzen. Den Grund, weshalb ich diese Kugel aufgehoben habe. Blitzschnell schließe ich meine Augen, um das Bild anzuhalten. Es brennt sich so tief ein, dass ich kurz vor dem Glauben stehe, selbst in dem Bild zu sein.
Es zeigt eine weite, weiße Landschaft. Voll von dunklen Kratern. Und mittendrin schwebt ein Mensch in einem ausgefallenen Anzug. Die Mondlandung. Es ist so wunderschön, das Wissen, dass dieses dumme Erdenvolk es geschafft hat, eine Grenze zu überwinden, die als unüberwindbar galt.
Ich will das auch können. Mich aus den Fängen der Zeit befreien und einfach von silbernem Dunst umhüllt davonschweben. Auch wenn es mich das Leben kosten würde.
Doch ich werde mich nie wehren können gegen das, wozu ich bestimmt bin.
Ohne mich gibt es keine Zeit mehr. Und ohne die Zeit gibt es nichts mehr.
Denn das ist allein meine Aufgabe.
Ich bin auf ewig die Hüterin der Zeit.


Bildergeschichten - Teil 1Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt